Seite:Die Gartenlaube (1868) 457.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

nicht durch die alte gemeine Medicin, weshalb auch die gewöhnlichen Aerzte frech ableugnen, daß man Brüche durch innerliche Arzneien heilen könne. Und durch was wird denn nun ein vor Kurzem entstandener Bruch sicher geheilt? Durch Rhus (Gift- oder Wurzelsumach); nur muß man nach jeder Gabe eine Woche lang warten. Nach Arthur Lutze wirkt dieses Rhus besonders auf die rechte Körperhälfte und thut sogar bei eingeklemmten Brüchen gute Dienste. Clotar Müller ist dagegen der Ansicht, daß Brüche bei Erwachsenen durchaus das Tragen eines gut passenden Bruchbandes erfordern, da deren radicale Heilung durch innere und äußere Arzneimittel nicht zu erwarten steht. Wohl heilen aber nach ihm Brüche bei kleinen Kindern durch Nux und Cocculus; vom Rhus scheint er nichts zu halten. Bei eingeklemmten Brüchen gelingt nach Müller die Zurückbringung sehr oft erst nach Darreichung von Aconit, Nux oder Schwefel. Ja, ist Brand der eingeklemmten Theile zu befürchten bei Nachlaß der Schmerzen und dunkler Färbung der Haut, so ist noch von Arsen und Lachesis Hülfe zu erwarten. – Daß in Staaten, wo fast alles Wohl und Wehe der Menschen polizeilich überwacht wird, die homöopathische Heilkünstelei mit ihren Nichtsen ganz unbehindert auch bei solchen gefährlichen Zuständen wirthschaften darf, die durchaus ein energisches Eingreifen verlangen, ist nicht zu begreifen. Es ist geradezu Mord, wenn ein Arzt bei eingeklemmtem Bruche, ohne zu untersuchen, nur auf gewisse Krankheitserscheinungen hin mit allopathischen Arzneien oder homöopathischen Nichtsen curirt, anstatt die Zurückbringung oder Operation des Bruches vorzunehmen.

Bock.




Goethe’s letzter Schüler.

Die Jünger der Schauspielkunst sind in der Regel ein unruhiges Völkchen. Sie halten nicht gern längere Zeit an demselben Orte aus. Haben sie sich an der ersten Bühne, die sie betreten, nur etwas aus der Anfängerschaft herausgearbeitet, so verfallen auch manche schon der leidigen Künstlereinbildung. Weit entfernt noch von ihrer einst möglichen Meisterschaft, halten sie mit den ersten Beifallszeichen, die ihre Ohren treffen, die höchste Höhe ihrer Kunst schon für erstiegen. Dann aber leidet es sie auch nicht mehr an dem Orte ihres Anfangs. Hinaus treibt es sie an andere Bühnen, nicht um sich zu vervollkommnen, denn das sind die meisten ja in ihrer Einbildung schon, sondern um glänzendere und mannigfaltigere Rollen, größere Anerkennung, rauschenderen Beifall und – in der Regel höhere Gagen zu gewinnen. Daher der öftere Wechsel der Mimen beiderlei Geschlechts an den Bühnen und die einander jagenden Gastspiele auf Engagement. Es wird kaum zu viel gesagt sein, wenn man einen Schauspieler, eine Schauspielerin, die zehn Jahre auf derselben Bühne aushalten und mit demselben Publicum zufrieden sind, für halbe Wunder friedlicher und bescheidener Künstlergesinnung erklärt. Die bei weitem größere Zahl derselben schwärmt in viel kleineren Zeiträumen von einem Theater zum anderen. Gegenüber diesem rast- und ruhelosen Wandertrieb der Mimen ist ein Schauspieler, der fünfzig Jahre hindurch an einer und derselben Bühne gewirkt und nicht etwa als ein aus Pietät beibehaltenes Inventarstück in unbedeutenden Nebenrollen, sondern als tüchtiger und immer gleich beliebter Künstler, ein Fall, welchen die Schauspielkunst, so alt sie schon geworden, jetzt sicherlich zum ersten Mal erlebt hat.

Der Künstler, dem die künftige Theatergeschichte dieses merkwürdige und interessante Factum verdankt, heißt Heinrich Franke. Er ist das derzeitig älteste Mitglied des Weimarischen Theaters, hat seine theatralische Laufbahn noch unter Goethe’s Augen angetreten und darf als dessen jüngster und letzter Schüler, als der einzige noch lebende Ueberrest aus jener denkwürdigen Theaterperiode Weimars bezeichnet werden.

Geboren in Baireuth am 30. Juni 1800, siedelte er sechzehn Jahre später mit seinen Eltern nach Weimar über, wo sein Vater als Tanz- und Fechtmeister an Theater und Gymnasium eine Anstellung erhalten hatte. Des Sohnes bemerkliche Anlagen bewogen den Vater, ihn für das Theater zu bestimmen. Ihm wurde durch die Gunst der Umstände die Gelegenheit geboten, an der Weimarischen Bühne, welcher zu jener Zeit noch Goethe vorstand, seine Studien zu machen, und der Meister, welcher das Talent des jungen Mannes schnell entdeckte, nahm sich seiner mit besonderer Vorliebe an. Man weiß, wie Goethe die Bühnenkräfte verwendete, wie es sein Princip war, namentlich angehende Künstler und Künstlerinnen auch als Statisten zu beschäftigen; sie sollten auf dem Theater vor allen Dingen mit Sicherheit, Anstand und Würde stehen, gehen und sich bewegen lernen. Und so mußte auch Franke von der Pike auf dienen, zunächst durch Mitwirkung als Statist, bei Pantomime und Ballet sich an das Lampenlicht gewöhnen, um auf diese Weise vorerst mit der Scene Bekanntschaft zu machen. Sein Lehrer drang überdies darauf, daß er den Proben, auf deren gründlichstes Halten der Meister so großes Gewicht legte, so viel wie möglich beiwohne, da hier gerade der beste Anlaß gegeben sei, bei dem freieren Meinungsaustausch über Auffassung von Charakteren, Gruppirungen, Lob und Tadel etc. viel zu lernen.

Wie Goethe’s Hauptbestreben auf die Herstellung eines sicheren Ensembles, eines harmonischen Ganzen der dramatischen Vorstellungen gerichtet war, so durfte kein diese Abrundung beförderndes Glied, auch kein äußerliches, dabei aus den Augen gesetzt werden. Viel gab er in diesem Betracht auf Gruppirung. In einer der Proben, denen Franke beiwohnte, geschah es z. B., daß Goethe, der mit seinem Schreiber gewöhnlich in seiner Loge saß, die mit Tisch und Lampe versehen war, sich nicht mit dem bekannten Schauspieler Deny verständigen konnte, welcher bei seinem Auftritte im Hintergrunde vor einer Halle stehen zu bleiben und Befehle hinter die Coulisse zu rufen hatte. Goethe, endlich ungeduldig, rief aus seiner Loge: „Warten Sie, ich werde hinaufkommen und es Ihnen vormachen!“ So geschah es auch, Goethe kam auf die Bühne und schickte sich an, die entsprechende Stellung zu nehmen, nachdem er sich die bezüglichen Worte mehrmals hatte wiederholen lassen. Da plötzlich trat er zurück und sagte lächelnd: „Nun, ich sehe, das geht so nicht, Ihr Schauspieler müßt das besser verstehen, vormachen kann ich es Ihnen nicht, aber ich werde es Ihnen nochmals erklären, wie ich die Sache meine.“ Die Sache ging aber erst, als Deny genau die Schritte zählte, um mit dem rechten Fuß, wie es Goethe für das Bild nothwendig hielt, die Schwelle der Halle zu überschreiten.

Der junge Franke genoß im Februar 1817 die Ehre, im Goethe’schen Hause die Rolle des Griesgram in „Paläophron und Neoterpe“ spielen zu dürfen. Der Meister sprach sich lobend gegen ihn aus und äußerte dabei zugleich, wie sich auch der Träger der kleinsten Rolle bemühen müsse, das Seine zum Gelingen des Ganzen beizutragen, wie es überhaupt bei einem dramatischen Werke keine sogenannten „Neben-“, keine, wie man gewöhnlich meine, „unbedeutenden“ Rollen gäbe, da eine jede nothwendig mit dem Ganzen eng verflochten sei, daher in keinem Falle und nach keiner Seite hin vernachlässigt werden dürfe. In jeder, auch der scheinbar geringsten, könne sich der Schauspieler bedeutend erweisen, wenn er sie objectiv treu aufzufassen, oder, wie schon Shakespeare ausgesprochen, der Natur ihr eigenes Wesen im Spiegel zu zeigen verstehe.

In den Künsten seines Vaters als Tänzer und Fechter schon tüchtig ausgebildet, von der Natur mit einer hübschen, schlanken Figur und einem intelligenten Antlitz ausgestattet, fand der junge Novize den Uebergang in’s Drama natürlich und leicht. Und so begann er seine Laufbahn als dramatischer Künstler auf der großherzoglichen Hofbühne am 9. Mai 1818, also in seinem achtzehnten Jahre, als Seppi in Schiller’s Tell. Bei den kleinen und unbedeutenden Partien, die ihm anfänglich übertragen wurden, stellte sich indessen bald heraus, daß er keines jener beschränkten Talente sei, welche allenfalls in dem einen ihrer Subjectivität zusagenden Fache mit der Zeit etwas zu leisten vermögen, daß er vielmehr eine sehr bewegliche Natur empfangen, die nach allen Seiten hin zu brauchen war, sich in alle, selbst die heterogensten Fächer zu schicken, in jede Haut, die ihm der Dichter vorlegte, zu kriechen vermochte. Da sich nun dazu auch eine artige Baritonstimme entwickelte und er fest in der Musik war, so öffneten sich für ihn bald alle Gebiete des ernsten wie des komischen Drama, des Singspiels und der Oper, und es gab von der Zeit an, wo er seine Reife erreicht hatte, kaum eine Rolle, zu deren Ausführung er nicht fähig und geschickt gewesen wäre und in welcher er nicht die Zufriedenheit des Publicums gewonnen hätte.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 457. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_457.jpg&oldid=- (Version vom 22.7.2021)