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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

der Stadt sehr lebendig zu machen. Das erste Landhaus vor dem Thor, von einem der reichsten und angesehensten Bürger erbaut, und für jene Zeit ein Ereignis, sollte eingeweiht werden; man lud auch die Bruder ein, das Fest verschönern zu helfen. Mit der sinkenden Sonne fuhr unter vielen anderen Carossen ihr wohlbekannter offener Wagen hinaus, von zwei isabellfarbenen Rossen gezogen; der Kutscher in höchster Gala, die Brüder in ihren schönsten Feierkleidern und in der heitersten Laune. Sie scherzten unterwegs über ihr Verhältniß zu der Tochter des Hauses, die bis vor Kurzem ihre letzte gemeinschaftliche Liebe gewesen war und die sie sich gegenseitig abgetreten hatten. Der Jüngere, Karl, versicherte wiederholt, daß er sie seinem Bruder lassen wolle, und Wilhelm erklärte lachend, er wolle von dieser Großmuth Gebrauch machen und sich noch heute auf’s Neue in sie verlieben. Ueber diesen Neckereien hatten sie das Haus erreicht, das auf’s Festlichste geschmückt und von der neugierigen Vorstadtjugend umstellt war; sie stiegen aus, traten in die saalähnliche Halle, in der soeben Hunderte von bunten Lampen angezündet wurden, und verloren sich bald in der geputzten, auf- und abrauschenden Menge. Während Wilhelm, seinem Vorhaben gemäß, sich sogleich der Tochter des Hauses näherte, trat Karl nach seiner Art in eine der tiefen, mit Guirlanden verhängten Nischen zurück, um die Vertheilung der Räume und die plaudernden Menschen ungestört zu betrachten. Er machte die Bemerkung, daß unter all’ den hochfrisirten, hochgestellten, fächerschwenkenden Mädchengestalten, die ihm im Vorüberschweben ihre lächelnden oder gleichgültigen Züge zeigten, nur eine seine Blicke an sich zog, deren Gesicht er nicht sah, die in einiger Entfernung, in ruhigem Gespräch mit der alten Demoiselle Merling ihm den Rücken zuwandte. Sie trug das einfachste weiße Kleid von der Welt und in ihrem Haar keinen anderen Schmuck, als das blaue Band, das es zusammenhielt; aber ihre zierliche ruhige Gestalt rief eine geheimnißvolle Begierde in ihm hervor, ihr in die Augen zu sehen. Er wettete mit sich selber, daß sie blau seien, und war eben im Begriff, sich davon Ueberzeugung zu verschaffen, als das Mädchen den Arm der alten Dame nahm und sie mit sich hinauszog. Dagegen näherte sich eine sehr lebhafte Gruppe junger Schönen seiner Nische, ohne ihn zu bemerken, und blieb vor den Blumengewinden und Oleanderbäumchen so zusammengedrängt stehen, daß sie ihm den Ausweg versperrte. Ein ganzer Wald von Federn erhob sich im Haarputz dieser drei Fräulein und entzog ihm jede Aussicht in den Saal; ihre Bänder und Schleifen spielten in den verschiedensten Farben. Karl mußte, wohl oder übel, das eifrig geführte Gespräch an sich heranrauschen lassen, er blieb in seiner Ecke stehen und horchte. Die Unterhaltung schien sich um eine Betschwester zu drehen und ihre unzähligen Fehler zu betreffen.

„Ich glaube, sie will sich lächerlich machen,“ sagte die Eine, „und ich wette, sie wird ihren Zweck erreichen.“

Mon dieu, was verlangt man von ihr!“ sagte die Zweite, eine sehr weiße Blondine, in mitleidigem Ton. „Ihre Education ist gerade nicht die feinste gewesen. Sie steht eben überhaupt eine Stufe tiefer.“

Sie hatte noch nicht ausgesprochen, als die Dritte, eine kleine Schwarze, lebhaft einfiel: „Meine Mama meinte, sie gehöre überhaupt nicht hierher. Sie hat ja nicht einmal etwas anzuziehen! In ihrem weißen Sterbekleid und im bloßen Haar sieht sie aus wie ein – Lamm; etwas Schlimmeres will ich nicht sagen.“

Karl horchte eifriger auf.

„Du bist etwas boshaft, Louise,“ fing die Mitleidige wieder an; „was kann die arme Annette dafür, daß ihre Eltern nicht reich sind! Ihr Vater hat eben einmal Bankerott gemacht – und wie man sagt, auf eine sehr curieuse Manier. Man spricht nicht gern davon. Ueberhaupt, die ganze Familie – –“

„Dann sollte sie bescheiden sein,“ fiel die Dritte wieder ein, indem sie ihren Fächer sein Pfauenrad schlagen ließ, „dann sollte sie nicht die kleine Hochmüthige spielen! Aber statt sich lieber gar nicht sehen zu lassen, zeigt sie uns, wo sie kann, daß sie anders ist als wir. Sie hält es für feiner - das weiß ich – wenn sie sich so recht simpel, so recht kindlich kleidet. Sie macht sich über all’ unseren ,Firlefanz’ lustig, wie das Gänschen es nennt. Wißt Ihr, was sie neulich gesagt hat? Ein kleines Gedicht von Goethe zu lesen, sei ihr lieber, als in sechs von unseren modischen Gesellschaften zu gehen; Gott, dieses – Lamm!“

„Sie will sich ridicule machen,“ wiederholte die Erste.

„Viele finden sie reizend!“ sagte die Zweite mit einem sanften, aber vernichtenden Lächeln. „Meine Tante hat einmal von ihr gesagt: ,sie ist zu gut für diese Welt;’ die ganze Gesellschaft lachte. Ich finde, das ist die richtigste Bezeichnung. Das arme Ding! Sie ist eben so gar nicht für die Welt gemacht, sie träumt vor sich hin, sie merkt es nicht einmal, wenn ein Mann sie ansieht.“

„Das ist unmöglich,“ fiel ihr die Dritte in’s Wort, „das ist nichts als die reine Heuchelei. O, ich traue ihr gar nicht. Sie thut, als wenn sie an die Lämmer auf der Weide dächte, und beobachtet dabei Alles! Sie kann einen durch und durch sehen.“

Die Zweite lächelte wieder und öffnete eben die schmalen Lippen, um etwas Neues zu sagen, als einige Musiktöne heranwehten und alle Drei wie elektrisch bewegt die Köpfe hoben und sich in den Saal zurückwandten. Sie hängten ihre Arme ineinander, und ein paar Augenblicke später waren sie aus Karl’s Gesichtskreis entschwunden. Indessen stand er noch eine Weile und regte sich nicht; er wünschte lebhaft, sie möchten noch lange so fortgeredet haben. „Annette heißt sie,“ dachte er und freute sich über den Namen. „Sie muß absonderlich, sie muß reizend sein. Ganz, wie ich sie möchte. Diese drei Grazien ahnen nicht, was sie angerichtet haben!“ Nun besann er sich und lachte über sich selbst, daß er drauf und dran sei, auf das Gerede dieser Lästerschule hin sich in ein Mädchen zu verlieben, dessen Rücken er einmal gesehen hatte. Die Musik, die unterdessen eine Weile präludierte, brach wieder ab und hob dann wieder an. Karl richtete den Kopf aus seinem Nachdenken auf und sah nun, daß die Tanzlust jener Schönen zu früh erwacht war; an dem Clavier ihm gegenüber stand Demoiselle Amalie, die Tochter des Hauses, mit einem Heft in der Hand, und eine andere Dame saß neben ihr, um ihren Gesang auf den Tasten zu begleiten.

In der ganzen Halle war es mittlerweile still geworden; die Gäste standen oder saßen zerstreut umher und schienen alle bereit, andächtig zu horchen. Demoiselle Amalie erröthete ein wenig und begann. Sie sang eine Arie mit italienischem Text, ihre Stimme zitterte von unten bis zu ihrer höchsten Höhe hinauf, dann blieb sie eine Weile oben in der Schwebe, und die himmelnden Augen schienen ihr auf ihrem Fluge zu folgen. Karl hatte diese Arie schon mehr als einmal aus ihrem Munde gehört; es wunderte ihn selbst, wie gleichgültig er ihr heut’ nur ein halbes Ohr lieh. Er meinte, den Klang einer kunstvollen Spieluhr zu hören. Ihre verzückten, hellen, farblosen Augen kamen ihm vor wie zwei sehende Wassertropfen, er verstand nicht mehr, daß sie ihm je etwas bedeutet hatten. Sein Blick glitt bald von ihr ab und blieb auf einmal auf einem blauen Haarbande hängen, das er schon gesehen zu haben meinte. Es gehörte der Dame, die am Clavier saß und spielte, für ihn unsichtbar, durch ihre Noten verdeckt. Nichts als ihr dunkelblondes Haar ragte darüber hervor, einfach zusammengefaßt, in leichten Wellen, die nach hinten flossen. Ihr Gesicht schien vornüber geneigt zu sein, es entzog sich ihm leider ganz. Nach einer Weile erst richtete sich der Kopf ein wenig auf, der Ansatz des Haares ward sichtbar, der sich in kleine, eigenwillige Löckchen löste. Dann verschwand er wieder, die Melodie ward lebhafter, die Clavierbegleitung wuchs zum Fortissimo heran, – und auf einmal erschien die ganze Stirn bis an die Augenbrauen und leuchtete hell herüber. Sie war nach den Schläfen zu sanft gewölbt, zwischen den Brauen sehr nachdenklich und vielleicht auch ein wenig eingesenkt, wenigstens erschien es ihm so; die Farbe aber war so licht und strahlend, daß der Kopf der daneben stehenden Amalie ganz in’s Grau versank. Darunter spannten sich die reizenden Brauen etwas hoch hinauf und führen dann wie dunkle Pfeile auf die Schläfen zu, bis sie sich in einer feinen, zarten Spitze verloren. Karl verfolgte sie mit aufgeregter, fast sehnsüchtiger Neugier, er hob sich auf den Zehen, um auch die Augen zu sehen. Aber in demselben Augenblick versank wieder die ganze Stirn, und statt der blauen Sterne, die er erwartet hatte, schien nur das blaue Band zu ihm herüber.

Dieses neckisch Spiel, das Gespräch von vorhin, der erste Anblick der weißgekleideten, räthselhaften Gestalt, dies Alles hatte das Blut des einsamen Lauschers in eine wunderliche Wallung gebracht; seine Phantasie schlug mit den Flügeln und begann unruhig zu flattern. Die Musik dauerte noch eine Weile fort; er hörte nichts als ein allgemeines Klingen und beschäftigte sich mit dem sonderbaren Spiel, das irgend ein Kobold mit ihm zu verführen schien, um ihm dieses Mädchen auf jede Weise zu zeigen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 466. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_466.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)