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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

sich um die Tanzenden nicht und schien in ernsten Gedanken vor sich nieder zu starren.

Seltsam aufgeregt trat er auf sie zu, und in dem Augenblick begegnete ihm das Sonderbare, was er schon in seinen Knabenjahren zuweilen erlebt hatte: er glaubte etwas zu thun, was er ganz ebenso schon einmal gethan. Es war ihm, als habe er sich – er konnte nicht sagen, wo und wann – mit ganz denselben Empfindungen, in derselben langsamen, fast stockenden Bewegung, derselben Gestalt genähert und sie ihn mit denselben eingeschüchterten Augen betrachtet. Ganz verwirrt blieb er stehen und suchte sich erst zu fassen. Das Mädchen bemerkte seine plötzliche Verstörung, oder wie man es nennen will, und mit einer sehr wohltönenden, freundlichen, noch etwas traurigen Stimme fragte es: „Was ist Ihnen? Ich glaube, Sie werden blaß; sind Sie nicht wohl?“

Karl schüttelte lächelnd den Kopf. „Ich bin ganz wohl, Mademoiselle,“ sagte er schnell beruhigt und in leichtem Ton. „Es war mir ein Augenblick – – Sie würden lachen, oder mich nicht verstehen, wenn ich Ihnen sagen wollte, was über mich kam.“

„Sagen Sie es mir dennoch,“ erwiderte sie mit einer gewissen verlegenen Heiterkeit. „Ich möchte wissen, ob ich es nicht verstände.“

„Kennen Sie das Gefühl, Mademoiselle, etwas zu erleben, was man schon einmal erlebt zu haben glaubt? ganz ebenso? Sehen Sie, so war mir jetzt, als ich auf Sie zu trat.“

Annette nickte. „Ich habe einmal gelesen,“ sagte sie lächelnd, „aber ich weiß nicht mehr, wo – daß dies Erinnerungen aus der Seelenwanderung seien, aus einem früheren Leben.“

„Das könnte wohl sein,“ entgegnete er überrascht und starrte in ihr kindlich kluges Gesicht. „Wo haben Sie das gelesen? – Es giebt so seltsame Traumzustände, für die man nach irgend einer Erklärung sucht. Mir war in dem Augenblick, als kennte ich Sie schon längst; als müßten auch Sie es wissen, daß ich Sie kenne.“

„So war mir auch,“ fiel sie ihm scherzend in’s Wort; „aber bei mir erklärt es sich besser. Ich habe Sie oft an unserem Hause vorbeireiten sehen –“ und unwillkürlich stieg ihr eine Röthe in die Wangen hinauf. „Die beiden Herren kennt ja Jedermann,“ setzte sie mit hastiger Heiterkeit hinzu. „Und obgleich ich mich nicht erinnere, Sie schon in einem früheren Leben gesehen zu haben, weiß ich doch mehr von Ihnen, als Sie denken; denn Demoiselle Merling spricht alle Tage von Monsieur Wilhelm und Ihnen.“

„So muß ich Ihnen sagen, daß ich auch über Sie schon stark unterrichtet bin – Sie werden es nicht errathen, in welcher Weise! Doch Sie leiden, liebe Mademoiselle. Es ist ein trauriges Schicksal, bei dem ersten Fest, auf dem man Tanzschuhe trägt, mit Kopfweh geplagt zu sein.“

„Nicht so traurig,“ erwiderte sie und schüttelte mit einem überaus reizenden Lächeln ihre kleinen Stirnlocken. „Denn wenn ich Kopfweh habe, bin ich nachdenklich und sogar etwas verständig, und habe gute Gedanken; und wenn ich ganz wohl bin, so hab’ ich nichts als Kindereien im Kopfe. Meine Mutter, die das ganze Haus voll Kinder hat, war zuweilen recht glücklich, wenn ich mit Kopfschmerzen versorgt war; dann hatte sie eine Hausplage weniger und eine recht gesetzte Pflegerin für die Kleinen.“

„Aber eine grausame Mutter, liebe Mademoiselle! – Und doch könnte ich selber fast so abscheulich sein, mir Glück zu wünschen, daß Sie – nachdenklich geworden sind, statt zu tanzen.“

„Warum tanzen Sie nicht?“ fiel sie auf einmal ein und sah ihm ganz befremdet in’s Gesicht.

„Warum sollte ich tanzen? Sehen Sie, ich interessire mich mehr für die Köpfe der Menschen, als für ihre Füße. Der schönste Atlasschuh ersetzt mir nicht einen – liebenswürdigen Mund, mit dem ich mich aussprechen kann. O Mademoiselle! Ich habe vorhin ein Wort über Sie gehört, das mich sehr glücklich gemacht hat. Sie lieben Goethe’s Gedichte. Verzeihen Sie mir, wenn ich Ihnen dafür die Hand drücke.“

Er hatte eine ihrer zierlichen Hände ergriffen, die eben in einiger Verlegenheit an den Oleanderblättern zupfte, und drückte sie mit jugendlicher, begeisterter Wärme. „Ich bin ein Goethe-Anbeter,“ setzte er hinzu. „Hier zu Lande lacht man über solche Menschen; man hält sie für Schwärmer. Lassen Sie die Menschen lachen, Mademoiselle! Sie haben die Augen, mit denen man Goethe liebt.“

Er sah dabei in ihre bläulichen Sterne hinein, so tief er konnte; sie schienen sich in der That mit Seele, mit Schwärmerei zu füllen. Annette zog ihre sanfte Hand leise zurück und senkte die Wimpern.

„Es ist wahr, ich lese Goethe gern,“ sing sie nach einer Weile etwas leise an, „und am liebsten im Freien. Wenn ich irgendwo im Garten oder im Walde sitzen kann, recht in der Stille, – da liest er sich so gut. Alles fängt an zu klingen und zu singen, und es wird Einem so wohl. Ich habe einen Lieblingsplatz – eine kleine Stunde von hier; Demoiselle Merling und ich, wir wandern mit einander oft hinaus – dahin geh’ ich nie ohne das Büchlein in der Tasche, und doch weiß ich’s fast auswendig.“

Sie stockte auf einmal und erröthete; sie schämte sich, von ihren kleinen Schwärmereien so viel verrathen zu haben. Ihre Finger spielten wieder an den Zweigen. „Sehen Sie, der Tanz ist aus!“ setzte sie plötzlich hinzu und schien ihn verlassen zu wollen.

Karl blieb vor ihr stehen. „Sie sagen da eben von einem Lieblingsplatz, eine kleine Stunde von hier; darf ich fragen, Mademoiselle, ob ich ihn kenne?“

„Nun? – Wie verstehen Sie das?“

„Vor dem Wasserthor etwa?“

Sie nickte.

„Die hohe Straße entlang, an den Windmühlen vorbei, bis der große Wald kommt?“

„Ganz recht.“

„Und dann links ab, zum Vorwerk, das mitten im Walde liegt? Und dort zu der großen Eichengruppe am Saum, von wo man so versteckt in das weite hügelige Land und über den Fluß hinaussieht?“

Annette nickte von Neuem mit den heitersten Augen. „Das ist der Platz. Dort sitz’ ich unter der großen Eiche, welche die schönste ist, und höre zu, wie die Blumen rauschen und die Eichkätzchen spielen, oder lese still für mich hin, oder spiele mit den Vorwerkskindern, während Demoiselle Merling an ihren religiösen Liedern dichtet. Aber woher wissen Sie, daß diese Stelle es ist? Warum sehen Sie so ernst, so nachdenklich in die Ecke?“

Er sah sie an. „Ja, ich bin heute nachdenklich,“ erwiderte er. „Der Mensch wundert sich so oft über nichts, auch über das Seltsamste nicht, und ich wundere mich heute über Alles. Wie kommt es, daß ich diesen Ihren Lieblingsplatz errathen habe und daß es auch der meinige ist? – Nichts hab’ ich davon gewußt. Sehen Sie wohl, daß wir uns schon einmal gekannt haben müssen, daß wir uns auf unserer Seelenwanderung zum zweiten Male begegnen? Jetzt verstehe ich auch,“ fuhr er mit scherzender Miene fort, „warum ich vorhin gleich so betroffen ward, als ich nur erst Ihren Rücken gewahr wurde. Ich wußte ja auf der Stelle, wer Sie seien. Natürlich! – Ich erinnere mich im Augenblick nicht, welcher Mann es war, der sich von einer Frau so wunderbar beherrscht und gefesselt sah, daß er schrieb: ,Wir müssen einmal in einem früheren Leben Mann und Frau gewesen sein; sonst verstehe ich es nicht’ –“

Er verstummte plötzlich, ohne den Satz zu vollenden, von der Beziehung getroffen, die für ihn selbst darin lag. Annette sah auf den Boden. Sie schwiegen Beide eine Weile und suchten nach Worten. Auf einmal trat wieder Demoiselle Merling heran, ließ ihre eingefalteten klugen Augen von Einem zum Andern gehen und sagte mit ihrer Falsett-Stimme: „Ich weiß nicht, ob ich störe! Denken Sie sich, meine theure Annette, daß einer der Musikanten plötzlich unwohl geworden ist, der Einzige, der was taugt; die Andern sind geradezu abominables. Wir wollen seinen Bruder holen lassen; aber unterdessen –? Da Sie ja doch nicht tanzen, ma chère infante wollen Sie nicht eine Weile mit Ihrem Clavierspiel aushelfen?“

Indem sie das sagte, betrachtete sie Karl von der Seite, was für ein Gesicht er dazu machen würde. Allein er bemerkte es und hielt seine Züge in Ruhe, während er einen Verdruß empfand, der ihm durch die Seele schnitt. Annette verrieth einen Augenblick, wie ungern sie sich dem Gespräch entrissen sah; dann faßte sie sich geschwind, und die holdseligste, natürlichste Freundlichkeit ging über ihre Züge.

„Ich helfe gern, wenn ich kann,“ sagte sie mit ihrer weichen Stimme und ging hinaus an’s Clavier.

Karl sah ihr mit warmen Augen nach, gerührt durch das liebreich Fügsame so einer Mädchenseele. „Sie ist das gutherzigste Kind!“ sagte die alte Dame und rauschte wieder hinaus. Er nickte still vor sich hin.

(Fortsetzung folgt.)
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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 468. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_468.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)