Seite:Die Gartenlaube (1868) 475.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

wandte der Oberschaffner kein Auge mehr von ihm; er war ja noch der einzige Fremde im Zuge, mithin zweifelsohne der Redner und Held des Abends. Endlich näherte sich ihm der Beamte. „Calculire,“ begann er, „Sie sind der Lecturer? Sie wissen wahrscheinlich nicht,“ fuhr er mit Würde fort, „daß der Präsident des Literarischen Vereins, der Sie eigentlich heut’ Abend dem Publicum vorführen sollte, zufällig in Geschäften abwesend ist; Sie werden also vom Vicepräsidenten vorgestellt werden, und dieser ist der Locomotivführer unseres Zuges.“ Jetzt war die Sache klar! All’ das geistige Interesse, welches das Zugpublicum zu bethätigen schien, es war nichts als Esprit du corps! Und richtig, als die Stunde des Vortrags kam, führte der Maschinist, sehr anständig und gemessen, den Lecturer der harrenden Menge vor, in seiner eleganten Abendtoilette selbst wie ein Professor aussehend, um anderen Tages wieder die Locomotive zu dirigiren, welche den Vorleser der nächsten Vortragsstation entgegentrug.

Wir haben bisher blos von dem Lecturesystem im Westen der Vereinigten Staaten gesprochen, weil es hier nach allen Seiten hin am besten organisirt ist und zugleich das charakteristischste Gepräge trägt. In den civilisirteren Staaten des Ostens theilt es seine Bedeutung mit vielen anderen geistigen Einflüssen und bedarf auch der bestimmten centralisirenden Organisation nicht so sehr. Die Lecturer sind hier leichter zugänglich und im Stande, die nöthigen Anordnungen für ihre Vorträge selbst in die Hand zu nehmen. Indeß hat eine Gesellschaft in New-York, „das Amerikanisch-Literarische Bureau“, begonnen, die Praxis des Westens auch in die Vorlesungscyklen der atlantischen Staaten einzuführen. Im letzten Winter hatte sie bereits für acht verschiedene Staaten mit dreißig Lecturern abgeschlossen, um sich für die nächste Saison jedenfalls noch weiter auszudehnen. Wie groß die Gesammtzahl dieser in Nordamerika bestehenden „Literarischen Vereine“ ist, läßt sich nicht ganz genau ermitteln; doch dürfte man eher zu niedrig als zu hoch greifen, wenn man ihre Ziffer westlich des Alleghanygebirges etwa auf zweihundert und östlich des letzteren auf fünf- bis sechshundert veranschlagt.

Heerd und Hort der ganzen Institution ist Massachusetts, speciell Boston, das überhaupt als die amerikanische Metropole der Intelligenz bezeichnet werden muß. In New-York dagegen hat das System, ebenso wie in allen mittleren Staaten der Union, nur wenig Wurzel geschlagen, in den Sclavenstaaten ist es gar nicht in’s Leben getreten. Ungefähr vierzig Jahre alt, verdankt es dem großen amerikanischen Schulreformator, Horace Mann, seine Entstehung. Damals gab es noch keine Lecturer von Profession; Advocaten, Aerzte und Geistliche des Ortes und der Umgegend waren die Vortragenden und hielten ihre Vorlesungen lediglich aus Liebe zur Sache, im Interesse der Volksbildung. Als einige dieser Männer sich zu einer gewissen Popularität gelangt sahen, erweiterten sie den Kreis ihrer Vorlesungen und nahmen ein Eintrittsgeld. Anfangs galten fünfzehn Dollars als hoher Preis für einen dergleichen Vortrag, gewöhnlich forderte man nur acht bis zehn Dollars für den Abend, und es verstrich manches Jahr, ehe fünfundzwanzig bis fünfzig Dollars der übliche Satz für jeden einzelnen Vortrag wurden. Selbst heute noch werden im Osten der Vereinigten Staaten die Lecturer weit geringer bezahlt als im Westen; einmal, weil dieselben nicht aus so weiter Ferne herbeigeschafft werden müssen, und sodann, weil eine Menge anderer Unterhaltungen und Ergötzlichkeiten den Vorlesungen Concurrenz machen.

Mit dem Lecturer von Profession ist aber der Charakter dieser öffentlichen Vortrage überhaupt ein anderer geworden; ursprünglich waren Wissenschaft und Poesie Gegenstand derselben, jetzt bildet die Politik fast ihr ausschließliches Thema; die Lecturer sind in der Regel nur noch „Stumpredner“, wenn auch meist geistreicher und gebildeter als die eigentlich sogenannten. Seit der Antisclavereiagitation und dem ihr folgenden großen Kriege hat die Politik alles andere Interesse überwuchert. Das Publicum will jetzt jeden öffentlichen Mann, namentlich jeden hervorragenden Reformer von Angesicht zu Angesicht sehen und die volle Wucht seiner Rede empfinden.

Unstreitig hat diese Tendenz des Publicums ihre gute Wirkung gehabt. Alle großen öffentlichen Fragen sind auf diese Art discutirt worden und werden es noch, wie z. B. augenblicklich die brennende Frage vom Stimmrecht der Frauen, und können natürlich nirgends ruhiger und angemessener beleuchtet und erläutert werden als von dem Katheder des Vorlesungssaals aus, wo der Staatsmann allein spricht, mir seine eigene Meinung äußert und Niemanden und keine Partei compromittirt.

Diese großen Vortheile werden indeß durch ebenso große Nachtheile aufgewogen. Was die politische Bildung gewonnen, das haben Kunst und Wissenschaft verloren; der leidenschaftliche Redner hat den ruhig erörternden Gelehrten verdrängt. Wenn Sumner das göttliche Strafgericht auf einen verbrecherischen Präsidenten herabdonnert oder Anna Dickinson für die Befreiung ihres Geschlechtes plaidirt, da findet Longfellow für seine Dante-, oder Lowell für seine Hamlet Erklärungen kein Publicum mehr. Nur Agassiz als naturwissenschaftlicher und Emerson als philosophischer und literarischer Lecturer behaupten auch heute noch ihre alte Popularität und machen volle Säle, wann immer sie auftreten. Sehen wir derart Kunst und Wissenschaft aus den gewöhnlichen Vorlesungscyklen leider fast ganz verbannt, so finden wir sie in einigen größeren Städten unter dem Schirme bestimmter Gesellschaften, wie des Cooper-Instituts in New-York und der Lowell-Lectures in Boston, doch noch eifrigst gepflegt und müssen namentlich diesen beiden Vereinen die wesentlichsten Verdienste um die allgemeine Volksbildung vindiciren.

Der „Preis“ der einzelnen Lecturer ist selbstverständlich je nach ihrer Popularität und Bedeutung sehr verschieden. Die populärsten derselben, darunter in erster Linie die oben schon genannte Dame, Miß Anna Dickinson, erhalten für einen einzigen Vortrag zweihundert und mehr Dollars von den Vereinen, die mit ihnen abgeschlossen haben. Man kann sich daher leicht vorstellen, welch’ einträgliches Geschäft ein solches Lecturerthum ist. Ein einziger Winter schafft dem Redner nicht selten ein ganz erhebliches Vermögen; so ist zum Beispiel die große und höchst werthvolle Bibliothek, welche der unvergeßliche Theodor Parker seiner Vaterstadt hinterlassen hat, lediglich die Frucht seiner Vorlesungen gewesen. Ein anderer berühmter Lecturer, Theodor Tilton, ist zugleich Herausgeber eines ungemein verbreiteten und einflußreichen religiösen Wochenblattes, des „New-York-Independent“. Nun wurden ihm von den Eigenthümern der Zeitschrift für dieses Jahr zwölftausend Dollars als Redactionsgehalt geboten, unter der Bedingung jedoch, daß er seine Wintervorträge einstellte. Er ging jedoch auf diesen Vorschlag nicht ein, sondern begnügte sich mit siebentausend Dollars Jahresgehalt, um dabei nach Belieben Vorlesungen halten zu können, welche ihm die Differenz doppelt und dreifach einbringen. Daß Dickens während seiner unlängst vollendeten Vorlesungsreise in Amerika Abend für Abend Tausende von Dollars geerntet hat, darf unter solchen Umständen, bei der Vorliebe des amerikanischen Publicums für dergleichen Unterhaltungen und bei seiner Vergötterung Alles dessen, was der Tag eben zur Mode und Berühmtheit erhebt, nicht Wunder nehmen; aus denselben Gründen wird auch erklärlich, daß trotz der oft fabelhaften Einnahmen mancher Lecturer die literarischen Vereine selbst, die sich ihrer bedienten, meistens auch vortreffliche Geschäfte machen. Die öffentlichen populären Vorlesungen gehören dem Nordamerikaner nun einmal zu dem unentbehrlichen Schmuck des Lebens und ersetzen in einem Lande, das sich zum Theil erst aus den Urzuständen der Wildniß herausarbeitet, einigermaßen die Fülle von Bildungsmitteln, wie sie uns in den civilisirten Staaten Europas eine tausendjährige Cultur an die Hand giebt.

Uebrigens hat das Lecturesystem seinen Höhepunkt noch nicht erreicht; vielmehr ist es hinsichtlich Organisation und Methode noch in stetiger Entwickelung begriffen, wie auch die Vorträge selbst nach Gegenstand und Darstellung ihre endgültige Form noch nicht gefunden haben. Weil die Politik augenblicklich alles öffentliche Interesse absorbirt, so folgt daraus noch nicht, daß dies immer der Fall sein wird. So lange die Aufregung der Gemüther währt, welche die Sclavenfrage hervorgerufen hat, und ehe die Südstaaten nicht auf allgemein befriedigenden Grundlagen „reconstruirt“ sind, so lange wird freilich die Richtung der Geister keine andere werden. Ist aber erst die bevorstehende Präsidentenwahl vorüber, alsdann ist alle Aussicht zu einer Periode verhältnißmäßiger politischer Ruhe vorhanden, und mit ihr werden Kunst und Wissenschaft, die Kinder des Friedens, auch in den Vereinigten Staaten und in deren öffentlichen Vorlesungen die Stelle wieder einnehmen, welche ihnen gebührt.



Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 475. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_475.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)