Seite:Die Gartenlaube (1868) 478.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1868)


dies an die Truppenmärsche, auf denen auch die Musik nur spielt, wenn sie durch Dörfer zieht.

Je höher der Zug auf den waldigen Bergrücken emporsteigt, die von drei Seiten das Leizachthal abschließen, desto mehr steigt jetzt die allgemeine Heiterkeit.

Die Buben machen athletische Uebungen und fangen an, sich durchzuprügeln, denn das ist von Alters her die Form, in welcher Buben ihrer Begeisterung Luft machen. Burschen und Mädchen, welche anfangs so prüde thaten, werden galant, weil die Hindernisse des Weges sie herausfordern. Mancher Seufzer quillt aus der Brust der alten Mantelträger, auf deren Glatze der neckische Sonnenstrahl herumgaukelt.

Wenn der Zug über den „Kühzagelberg“ thalabwärts geht, dann bietet sich auf halber Höhe ein reizender Ruhepunkt. Dort öffnet sich unvermerkt der Wald, und durch’s schimmernde Buchengehäng schauen Wendelstein und Breitenstein herüber. An ihrem Fuße aber leuchtet ein weißes Thürmlein, das gehört der kleinen Marienkirche, dem gebenedeiten Ziel unseres Weges.

Hier dacht’ ich oft, wenn ich als Knabe den Zug begleitete, an die Pilger vor Jerusalem, von denen der Lehrer in den Geschichtsstunden erzählt hatte, wie sie auf’s gelobte Land hinunterschauten. Ich sah es nicht im Eifer der Begeisterung, daß die unsrigen Nagelschuhe statt der Sandalen trugen und Haselstöcke statt der Ritterschwerter; ich glaubte nicht, daß die Kuppel des heiligen Grabes schöner glänzen könne, als das stille Kirchlein am Birkenstein.

Was doch die Phantasie nicht thut, wenn sie einen besessen hat! „Paris en Amérique“ – Jerusalem in Birkenstein!

An dem Sträßchen, das in’s Fischbachauer Thal führt, steht eine einsame Wirthschaft, „zum Neuhaus“ geheißen. Dort führte lange Zeit der „Bocksteffel“ das Regiment, der seinen Namen von dem Thiere trug, welches er so gern mit dem Wildpret verwechselte, wenn seine Gäste solches bestellten.

Dort hielten die Kreuzfahrer zum ersten Male Einkehr.

Wie die Heuschrecken über Aegypten, fielen sie über die Küche her; umsonst waren Schürhaken und Feuerzange, mit welchen die resolute Köchin das Hausrecht vertheidigte; Jeder nahm, was er erwischen konnte.

Auch des „Springquells flüssige Säule“ stieg aus den braunen Fässern auf, und da war bald die Mühe vergessen, die man erlebt hatte und noch erleben sollte. Der gewichtige Beneficiat ging mit gutem Beispiel voran und bewährte eine unermeßliche Langmuth, ehe er die erfrischten Himmelsbürger zum Weitermarsche in die Höhe trieb.

Nun mußte wieder gebetet werden, und auf dem kleinen Sträßchen, das sich von Neuhaus nach Birkenstein schlängelt, schlängelten sich die frommen Wünsche der Wallfahrer empor. Ob es wirklich lauter fromme waren? Nach der Ankunft, die noch zeitig genug statt hat, wird das Amt in der kleinen Kirche gehalten, und diesem folgt, was man in höheren Sphären ein „Festdiner“ zu nennen pflegt.

Es fehlt zwar Manches an der vollen Feinheit des Begriffs, zum Beispiel Messer und Gabeln, Tische und Bänke, Toaste auf die deutsche Einheit und Aehnliches. Aber die Hauptsache ist doch da und das ist – die Begeisterung. Wer sie bezweifeln wollte, der müßte sie auf dem Heimweg gewahren, welcher von Sachverständigen als die Krone des Tages bezeichnet wird.

Die volkswirthschaftliche Agitation, welche gegen die vielen Feiertage eifert, richtet sich auch gegen diese Buß- und Kreuzgänge, und zwar mit vollem Rechte. Ein eigentliches Interesse daran hat ja nur der Klerus.

Es ist zwar die gemeine Meinung, daß unser Volk mit diesem unbedingt sympathisire; allein gerade für das bairische Gebirg läßt sich dies keineswegs so allgemein behaupten. Den Schild der Pietät, hinter dem sich so viel Wust und Wüstlinge verbargen, haben die letzten Decennien zertrümmert. Der scharfe Luftzug der Kritik, der durch unsere Zeit geht, ist auch in die Thäler gedrungen, von denen wir sprechen, und hat den Leuten Muth zum „Schimpfen“ eingeblasen. Eine angeborene Dialektik kommt zur Gelegenheit hinzu und richtet sich in erster Reihe gegen den Klerus. Der Pfarrer ist nicht mehr exlex, wie er war, seine Predigt wird nicht mehr nacherzählt, sondern kritisirt und ist vor dem Volkswitz keineswegs sicher.

Mit dem Respect vor den Personen ist selbst der Respect vor der Sache ein wenig geschwunden, und auch der Boden der Berge spürt, wenn freilich in kleinerem Maße, die Procente der Frivolität, welche im Boden der Städte wuchert. Die junge Generation ist besonders gelehrig für solche Traditionen, die reiferen Männer aber merken, daß hinter der religiösen Stellung der Priester die politische allzu dreist sich breit macht. Unbedingten fanatischen Respect vor der körperlichen Erscheinung des Klerikers haben fast nur noch die alten Weiber. Da kann es wohl passiren, daß der begeisterte Regenschirm einer solchen bäuerlichen Matrone mit dem interconfessionellen Cylinder des harmlosen Fremdlings zusammentrifft, der am Wege steht und meint, man schaue einen Bittgang etwa gerade so an wie ein Regiment Soldaten.

Carl Stieler.




Der Teufel
1.

In den schönen Promenaden der Stadt N. machte ein einzelner Herr seinen Nachmittagsspaziergang. Es war ein warmer Octobertag, die Sonne stand schon nicht mehr hoch am Himmel und die Promenaden waren nur noch schwach besucht. Für die eigentlichen gewohnheitsmäßigen Spaziergänger war die Stunde ihres regelmäßigen Ausganges schon vorüber, und der einzelne Herr gehörte wohl auch nicht zu ihnen. Von den wenigen Personen, die ihm begegneten, sahen die meisten ihn fremd an und zugleich neugierig, wer der Fremdling sein möge. Andere, die ihn kannten, grüßten ihn dann freilich mit einer fast an Ehrerbietung grenzenden Förmlichkeit.

Die Stadt war die Hauptstadt der Provinz, groß, mit nahe an hunderttausend Einwohnern, der Sitz der Civil- und Militärbehörden der Provinz. Der einzelne Herr, ein hoher, schlanker Mann, vielleicht im Anfange der vierziger Jahre, hatte ein vornehmes Wesen; mit diesem und zugleich mit einer verbindlichen Herablassung erwiderte er die ehrerbietigen Grüße, die ihm gebracht wurden. Er hatte das Ende einer Allee erreicht und wollte in ein kleines Bosket einbiegen, als er plötzlich erschrak, als wenn er auf eine Viper getreten hätte. In dem Bosket stand, zwanzig Schritte von ihm, ein buckliges Männchen. Er wollte im ersten Augenblick umkehren, aber der kleine Bucklige hatte ihn gesehen und mit dem ersten Blicke seiner klugen, stechenden, grauen Augen erkannt und war nun auch schon mit behenden Füßen auf dem Wege zu ihm, ihn zu begrüßen; freilich nicht förmlich oder gar ehrerbietig, wie die anderen Spaziergänger gethan hatten. Vielmehr ging das Männchen sehr ungenirt und sehr zutraulich auf ihn zu, wie auf einen alten Bekannten und genauen Freund. Er sah übrigens sehr reputirlich aus, der kleine, buckelige Mann; er war elegant, nach der neuesten Mode gekleidet, trug über der Brust ein paar schwere, goldene Ketten für Uhr und Lorgnette, und auf dem Kopf einen hohen Cylinder, um größer zu erscheinen, als er war.

„Ei der Tausend, Herr von Römer!“ rief er. „Wahrhaftig, Römer, Du bist es!“

Herr von Römer hatte nicht mehr umkehren können, er mußte Stand halten und auch diesen Gruß erwidern; mit jener leichten, verbindlichen Herablassung geschah es allerdings nicht.

„Ah, Brand, Du hier?“ sagte er steif und zugleich sauersüß genug.

Er hatte es auch wohl vornehm sagen wollen, aber wie er sich dazu aufrichtete, sah der Buckelige mit seinen grauen, stechenden Augen ihn so eigenthümlich, so listig, so höhnisch und zugleich so blitzend an, daß der vornehme Herr von Römer sichtlich erschrak und sich einer Gewalt und einem Zwange hingab oder unterwarf, denen er sich nicht entziehen zu können schien.

„Ja wohl bin ich es,“ erwiderte ihm lächelnd der Kleine. „Sebastian Brand! Wer ihn einmal gesehen hat, behält ihn für immer im Gedächtniß, und nicht blos um seinen Buckel und hohen Cylinder. Und wir Beiden waren sogar Freunde, intime Freunde. Ich denke, Römer, wir sind es noch.“


Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 478. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_478.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)