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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

No. 32.   1868.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


Die Brüder.
Von Adolf Wilbrandt.
(Fortsetzung.)


Annette hatte sich mit leisem Zittern erhoben, warf noch einen Blick auf Karl, der ihm sagen sollte – sie wußte nicht was – und schickte sich dann geduldig an, der alten Dame zu folgen. Indessen Karl hatte schon seine verlorene Fassung wiedergewonnen. „Ich danke Ihnen, liebe Tante,“ sagte er sehr verbindlich. „Uebrigens, was Ihre Heimkehr angeht, so trifft es sich gut: ich will auch eben nach Hause! Also, wenn Sie erlauben, so schließ’ ich mich Ihnen an. Zu Dreien geht sich’s noch besser. Ich führe Sie auch einen näheren und schöneren Weg: zunächst einige Minuten durch den Wald, und dann schräg über die Straße hin. Ich weiß, diesen näheren Weg kennen Sie nicht – – Und ich auch nicht,“ setzte er in Gedanken hinzu, „denn er ist sehr viel weiter. Aber ich will Dich lehren, mich bei Seite schieben zu wollen!“

Damit hob er Annettens Büchlein auf, das ihr vor Verwirrung niedergefallen war, ging ohne Weiteres voran und schlug einen Pfad rechts von den Eichen ein, der vom Vorwerk hinweg tiefer in den Wald führte. Er summte, wie in völliger Unbefangenheit, ein Lied vor sich hin und blieb dann wieder stehen, um die Alte, die ihm nach einigem vergeblichen Zögern folgte, an sich vorüberzulassen. Der Weg war so schmal, daß ihn nicht Zwei neben einander betreten konnten. Karl, indem er zur Seite auf den Baumwurzeln dahinging oder sich an dem niedrigen Gestrüpp vorüberdrängte, hielt sich neben Annetten. Er kümmerte sich um keinen der giftigen Blicke, die ihm die Alte, aufgeregt den Hals verdrehend, zurückwarf; er hatte auch alle Scheu und Bangigkeit vor dem holden Geschöpf an seiner Seite verloren. Ein feuriger, fröhlicher Uebermuth war in ihm wachgerufen, und die ganze Seligkeit dieses Abends drängte sich ihm unwiderstehlich auf die Lippen. Er begann das Goethe’sche „Mailied“ wieder vor sich hin zu sprechen, aber diesmal mit lauter, schwärmerischer Stimme. Annette horchte und sah still auf den Weg; die Alte trippelte heftiger voran. Die Aeste krümmten sich und knarrten unter ihren Füßen; aber nur um so lauter und glücklicher fuhr der Jüngling fort:

– – O Erd’, o Sonne!
O Glück, o Lust!

O Lieb’, o Liebe!
So golden schön,
Wie Morgenwolken
Auf jenen Höhn! !

Du segnest herrlich
Das frische Feld,
Im Blüthendampfe
Die volle Welt.

O Mädchen, Mädchen,
Wie lieb’ ich Dich!
Wie blickt Dein Auge! –

„Wie liebst Du mich!“ schwebte ihm ersterbend auf der Zunge. Er starrte das Mädchen, sich plötzlich besinnend, an. Sie hatte ihre gefüllten Augen auf ihn gerichtet, schlug sie nun heftig nieder und schien sie in den Boden zu versenken, während ihre glühenden Wangen sich noch glühender färbten. Ein starker, krummer Ast legte sich über den Weg; sie schnellte ihn mit einem unsicheren Tritt in die Höhe, so daß er wie eine Schlange an ihr hinauffuhr, erschrak und strauchelte. Karl sprang hinzu und faßte ihren Arm.

„Wollten Sie fallen, Mademoiselle?“ sagte er hastig.

„O nein,“ flüsterte sie und suchte zu lächeln. „Ich danke Ihnen. Es war ein kleiner Schrecken, weiter nichts. Es ist schon vorüber.“

„Ich werde lieber hinterdrein gehen,“ sagte Demoiselle Merling mit Betonung und einer sehr bösartigen Miene und blieb stehen. „Geh’n Sie voran, mon enfant.“

„Sind Sie so schreckhaft, liebe Mademoiselle?“ fragte Karl, ohne auf diesen zornigen Schachzug der Alten zu achten. „Sind Ihre Nerven so zärtlich?“

„Ich fürchte, sie sind es,“ erwiderte Annette mit dem reizendsten, mädchenhaftesten Kopfnicken. „Aber das thut nichts, ich habe doch Muth. Ich bin leicht zu erschrecken, aber ich kann mich auch zusammennehmen.“

„Da haben Sie Recht, Mademoiselle Annette! Ein Frauenzimmer ohne Muth, pflegte mein Vater zu sagen, ist wie ein Mann ohne Verstand. Aber zum Beispiel?“ setzte er mit einem scherzhaften Blick hinzu, indem er auf das Hinderniß zeigte, das gerade jetzt ihren Weg durchschnitt. Ein ziemlich breiter, wenn auch nicht tiefer Bach floß durch den Wald, und an der Stelle, wo sie standen, führte nur ein schmaler, roh zugehauener Baumstamm hinüber. Etwa zwanzig Schritte weiter hinauf hatte man für die Aengstlichen und Ungeschickten gesorgt und einige hohe, feste Steine in das Wasser gelegt, welche wie Brückenpfeiler ohne Brücke hervorsahen. Karl wies auf den Baumstamm hin und trat dann auf

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 497. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_497.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)