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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

ihn hinauf. „Würden Sie es wagen, Mademoiselle, sich dem Rücken dieser zahmen Schlange anzuvertrauen?“

„Aber mon dieu, Charles, wohin führen Sie uns!“ rief Demoiselle Merling mit entrüsteter Stimme. „Wir sollten jetzt längst auf der Landstraße sein und stecken mitten im Wald – und können nicht weiter! Oder denken Sie etwa, daß ich auf der Stange da Seiltänzerkünste machen soll?“

„Nicht doch, liebe Tante, Sie nicht! Sehen Sie dort hinten die Steinbrücke, da können Sie gar nicht fehlen. Ueber diese ‚Stange‘, wie Sie es nennen, möchte ich nur die junge Dame da herüberlocken!“ Und damit ging er schon den Stamm entlang und winkte vom andern Ufer lächelnd zu Annetten herüber.

„Sie sind toll, lieber Charles! Annette, Sie folgen ihm nicht! Lassen Sie sich nicht von ihm zu Narrenspossen verführen!“

„Haben Sie Muth, Mademoiselle Annette?“ fragte Karl von Neuem. „Sie sehen, der Balken hält still. Oder fürchten Sie, daß Sie schwindeln könnten?“

„Schwindeln nicht – aber ich fürchte –“ und das Mädchen sah verlegen auf Demoiselle Merling und ängstlich auf den Bach.

„Also Sie fürchten!“ rief Karl mit einem leisen Anklang von Spott. „Das thut mir leid, ich dachte, Sie hätten Muth.“

Bei diesen Worten zog Annette hastig ihr Kleid ein wenig hinauf, so daß die kleinen Füße sichtbar wurden, und trat auf den Baumstamm. Sie warf einen Blick zu ihm hinüber und erröthete hoch hinauf. Dann fing sie an, zwar etwas behutsam, aber doch mit fester Entschlossenheit vorwärts zu gehen.

„Aber au nom du ciel, Annette!“ rief Demoiselle Merling außer sich, „wollen Sie durchaus in’s Wasser fallen? Wollen Sie sich von diesem abscheulichen Menschen umbringen lassen? Kehren Sie um, Annette, kehren Sie um!“

„Ich bitte Sie, liebe Tante,“ sagte Karl etwas unwillig, „schweigen Sie doch! Sie sehen, es ist zu spät; wollen Sie die Demoiselle außer Fassung bringen?“

„Annette! Annette!“ schrie die Alte nun vollends, „Sie fallen ja unfehlbar hinein! Sie werden straucheln, Annette! Kehren Sie um, oder Sie fallen hinein!“ Ihre gellende, hohe Stimme fing an, das Mädchen in Verwirrung zu bringen. Annette blieb stehen, weil ihre Schritte plötzlich unsicher wurden. „Richtig, da straucheln Sie schon!“ rief die Alte in vollem Entsetzen aus und hob ihre Arme mit dem Sonnenschirm in die Höhe. Diese Bewegung, die Annette von der Seite sah, verwirrte sie ganz, sie gerieth in’s Schwanken, suchte durch einen raschen Tritt festeren Fuß zu fassen, und indem sie darüber das Gleichgewicht verlor, sank sie, blaß wie eine Leiche, lautlos hinunter.

In demselben Augenblick stürzte Karl schon hinzu, sprang vom Ufer in den Bach hinein und haschte nach ihren Gewändern, ihren Armen. Der Fall war nicht hoch; das Wasser schlug zwar einen Augenblick über ihren Schultern zusammen, aber der Jüngling zog sie schnell in die Höhe und an seine Brust. Sie schlug die Augen auf, um sie sogleich wieder zu schließen. Er trug sie in seinen Armen wie ein Kind, hob sie mit starker Anstrengung auf den Uferrand hinauf, dann, als er sah, daß sie mit wiederkehrender Willenskraft sich hielt und ihr Blick mit dem lieblichsten Bewußtsein auf ihm ruhte, ließ er sie auf einen Augenblick los, um sich auf das Ufer hinaufzuschwingen.

„Annette! Annette!“ sagte er, als er oben stand, und beugte sich in fassungsloser Bewegung zu ihr nieder. „Können Sie mir verzeihen?“

„Was soll ich Ihnen verzeihen?“ sagte sie mit noch matter Stimme und lächelte ihn an.

Er hob sie vom Boden auf, um sie nicht länger in der Nähe dieses tückischen Bachs zu sehen, und trug und führte sie einem bemoosten Stein in der Nähe zu. Er fühlte sie auf’s Neue in seinen Armen und? ohne daß der Schreck, wie vorhin, das Gefühl der Wonne in ihm erstickte. Ihre leichte, wieder ein wenig schwankende Gestalt lehnte an seiner Brust; er begriff in diesem Augenblick, daß man für so eine unaussprechlich süße Last das Unaussprechlichste zu wagen vermöchte. Endlich mußten seine Arme sie loslassen; sie saß auf dem Stein und blickte ihn dankbar an, und der erste rothe Schimmer blühte wieder auf ihren blassen Wangen.

Demoiselle Merling hatte bisher starr und wie betäubt dagestanden; ihr Sonnenschirm lag am Boden, ihre laute Stimme schien aus dem halb offenen Mund davongeflogen zu sein. Jetzt endlich trat sie heran. „Wie Sie noch blaß sind, ma chère! Sie haben sich doch nicht weh gethan? Ich sagte es gleich! Ich habe es gleich gesagt, Sie würden hineinfallen!“

„Weil Sie unvernünftig waren wie ein Kind,“ unterbrach sie Karl in sehr unwilligem Ton. „Ich bitte, schweigen Sie, bringen Sie mich nicht auf. Hier ist keine Zeit, sich zu entschuldigen, sondern die Demoiselle in trockene Kleider zu bringen.“

„Wollen Sie mir Impertinenzen sagen, lieber Charles?“ erwiderte die Alte und sah ihn mit offener Feindseligkeit an. „Ich bin also schuld? Ich also habe das Kind zu dieser Thorheit verleitet? Ich habe uns hier in die Irre geführt? Sie übertreffen heute sich selbst, lieber Charles, Sie übertreffen sich selbst!“

„Lassen Sie uns heute nicht mehr streiten,“ brach Karl kurz ab und reichte Annetten seine Hand, um sie von ihrem Sitz sanft in die Höhe zu ziehen. „Kommen Sie, kommen Sie, liebe Mademoiselle. Wir müssen zum Vorwerk zurück; es ist das nächste Haus; dort kann man Sie umkleiden. Sind Sie noch schwach, liebe Mademoiselle? Soll ich Sie tragen? Ich habe Kraft genug, um Sie durch zwei solche Wälder zu tragen wie dieser.“

„Charles! Charles!“ rief die Alte in der höchsten Entrüstung aus, „sind Sie denn ganz von Sinnen? Wissen Sie denn nicht, wie unanständig Sie sind? Ein junges Mädchen tragen – nein, dieser Einfall!“

„Können Sie gehen, Mademoiselle Annette?“ sagte Karl mit weicher, etwas bebender Stimme und wandte sich von der Alten ab. Das Mädchen nickte ihm zu. „Nehmen Sie meinen Arm, liebe Mademoiselle! Sie frieren schon in Ihren nassen Kleidern?“ Sie schüttelte lebhaft den Kopf. Mit einigem Zögern hing sie sich an seinen Arm und vermied es dabei, dem Blick der Demoiselle Merling zu begegnen. „Schreiten Sie recht tapfer aus,“ sagte er, indem er sie zärtlich anblickte, und führte sie rasch voran. Die Alte keuchte mühsam hinterdrein und biß sich stumm auf die Lippen. Karl schien nicht mehr zu wissen, daß sie auf der Welt war; er drückte Annettens Arm an den seinen, flüsterte ihr freundlich belebende Worte zu und fragte sie ein Mal über das andere, ob sie ihm auch verzeihe. „Ob ich Ihnen verzeihe?“ sagte sie leise und blickte mit scheuer Dankbarkeit zu ihm hinauf.

„Sie haben mich gerettet! Sie haben mir –“ Sie verstummte. Dann begann sie nach einer Weile, indem sie plötzlich ihren Schritt zu beschleunigen schien: auch ihre Eltern würden ihm danken wollen, ihre guten Eltern. Es würde sehr freundlich von ihm sein, wenn er sie aufsuchen wollte, damit sie den Retter ihrer ungeschickten Tochter kennen lernten. Sie riß einen Zweig von dem Gebüsch am Wege ab und fragte dabei mit etwas hastiger Stimme: „wann er wieder zurückkomme?“ Karl glaubte die holdeste Musik zu hören, indem sie das sprach. Er ergriff ihre Hand, drückte sie und betheuerte, daß er keinen wärmeren Wunsch habe, als sie wiederzusehen. Sie erröthete sehr und wandte ihr Gesicht zur Seite hinaus. Unterdessen hatte die Alte sie endlich wieder erreicht, das dürre Holz knatterte unter ihren hastigen Füßen. Der Wald lichtete sich, und zwischen den Bäumen durch schien das Haus des Vorwerkspächters herüber.

Die Kinder, die vor der Thür in der Abendsonne spielten, sprangen Annetten mit liebkosenden Ausrufungen entgegen. Auf ihr ungestümes Schreien, als sie die nassen Kleider sahen und hörten, was vorgefallen, kam die Mutter heraus und eilte fast mit Zärtlichkeit auf das Mädchen zu. Annette schien nun wirklich trotz des raschen Ganges kläglich zu frieren; ihre Lippen verloren alle Röthe. Die erschrockene Pächterin führte sie schnell hinein, die alte Dame und die Kinder folgten, und Karl blieb allein vor der Thür zurück, in seinen hocherregten, wogenden Gedanken.

Eine lebhafte Bangigkeit bedrückte ihn, dann zerschmolz sie vor dem Feuer seiner Gefühle; er sah sich wie über alle Wipfel weggetragen, er wiederholte sich Annettens Blicke und Worte und drückte sie im Geiste wieder an seine Brust. Auf einer der Bänke, die in dem Wirthsgarten vor dem Hause unter den Lauben standen, warf er sich hin und starrte mit überfüllten Augen in den Himmel hinein. Nach einer Weile kamen die Kinder wieder hervor, schlichen neugierig näher, standen stumm um ihn her und sahen dann wieder voll Erwartung nach der Hausthür zurück. Endlich erschien auch Annette, und nun sprangen ihr die Kleinen mit lautem Lachen entgegen. Sie hatte sich von Kopf bis zu Fuß verwandelt und stand in ländlicher Mädchentracht, wie eine etwas

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 498. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_498.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)