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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

„Was verschafft mir so früh das Vergnügen, lieber Wilhelm ?“ sagte sie und ging ihm ein paar Schritte entgegen.

„Liebste Tante,“ erwiderte er, indem er ihre beiden Hände nahm und sie mit seinen leuchtenden blauen Augen anglänzte, „haben Sie meine beiden Zettel von gestern gelesen?“

„Ja, mein alter Wilhelm,“ sagte sie und lachte.

„Haben Sie auch den Zettel unter meinem Bildniß gelesen?“

„Ich denke.“

„Und wissen Sie, wen ich meine?“

„Ich glaube so was zu merken,“ sagte sie und durchbohrte ihn mit ihren listigen Augen. „Ist sie klein, lieber Wilhelm? Hat sie blaue Augen? Hat sie ein feines, kleines Naschen? – Hab’ ich Recht oder Unrecht, mein alter Wilhelm?“

Der aufgeregte Jüngling hatte ihre Hände losgelassen, warf sich in’s Sopha und streckte die Arme an den Lehnen aus. „Tante Merling,“ sagte er, „dieses Mädchen muß ich heirathen, und Sie müssen meine Freiwerberin sein, und Sie müssen jetzt sogleich Ihre Enveloppe nehmen und Ihren Hut aufsetzen und diesen Gang für mich machen.“ .

„Was soll ich – ?“ fragte die alte Dame und starrte ihn an.

„Für mich werben, Tante; bei den Eltern, bei Annette; mich ihr antragen! Ich habe keine Ruhe, bis Sie wieder zurückkommen.“

„Und das muß sogleich sein? – Lieber Wilhelm – – Mein Gott, ich bin ganz erschrocken; – ist das ein ungestümer, stürmischer Mensch! – Seit vorgestern Abend –“

„Fragen Sie nicht viel, liebe Tante; glauben Sie mir’s! Ich liebe sie; ich halte Annette für einen Engel, und Sie wissen ja, daß ich Recht habe.“

„Sie ist ein gutes Kind; – aber so eilig – – Nein, diese jeunesse!“ – Sie stand noch immer und konnte sich, nicht fassen.

„Sind Sie nicht auch ein Mal jung gewesen, Tante Merling? – Seien Sie gut, seien Sie liebenswürdig und foltern Sie mich nicht lange. Sie wissen, ich war ja immer von raschen Entschlüssen. Und jung gefreit hat noch Niemand gereut. Und eh’ ein Andrer kommt und sie mir wegnimmt, müssen Sie hinüberlaufen, liebe Tante –“

„Nun, nun!“ unterbrach sie ihn lachend, „so schlimm wird’s ja nicht stehen! Daß gerade in dieser Minute –“

„Alles geschieht in irgend einer Minute, liebe Tante! – Was bedenken Sie noch? Haben Sie nicht immer Gutes von ihr gesagt? Sind ihre Eltern nicht brave und gebildete Menschen? Und ist sie nicht so reizend, so liebenswürdig –“

„Aber arm, lieber Wilhelm! Die Eltern haben nichts; sie sind stets in Verlegenheiten –“

Wilhelm sprang auf. „Wollen Sie mich böse machen, Tante Merling? Wenn ich für uns Beide genug habe, was geht ihre Armuth mich an?“ Er begann unruhig auf und nieder zu gehen. „Sie soll reich werden!“ stieß er heraus. „Sie soll ihren Eltern aus der Noth helfen! – Warum kommen Sie mir mit solchen Bedenken, Tante? Was haben Sie, warum stehen Sie so in Gedanken?“

Die Alte stand in der That sehr nachdenklich da; aber bei diesem Anruf faßte sie sich und suchte es hinter einem Lächeln zu verbergen. Die Erlebnisse von gestern traten ihr vor die Seele; der Abend im Walde, der Unfall, Karl’s Schwärmereien – sein Benehmen gegen Annette – gegen sie selbst – ihre Galle fing wieder an sie zu ersticken. Er hat sie gern, dachte sie. Er mißhandelte mich um ihretwillen! O, wie ich mich jetzt an ihm rächen könnte, wenn ich nur wollte! Wenn ich nur nicht so gut wäre! Sie fühlte, wie ihr der giftige Aerger wieder in’s Gesicht trat, und wandte sich ab, als sähe sie auf einen Augenblick zum Fenster hinaus, um ihre unholden Gefühle nicht zu verrathen.

„Liebe Tante Merling!“ sagte Wilhelm mit zärtlicher Stimme und trat an sie heran, indem er seinen Arm sanft um ihre Schultern legte. „Seien Sie nicht wunderlich; kommen Sie mir nicht mit Frauenzimmer-Bedenken, die Sie vielleicht im Sinn haben; thun Sie mir etwas zu Liebe! Sie haben mich ja immer gern gehabt,“ und er sing an sie zu streicheln. „Sie haben mir so oft gesagt, daß Sie mir einmal eine recht liebe, gute, reizende Frau aussuchen wollten. Nun haben wir sie gefunden, Tante Merling; sie ist gerade wie ich sie wünsche, und Sie sollen sie mir verschaffen, Sie und kein Anderer. Vorgestern Abend haben Sie Annette die Elevin Ihrer Seele genannt; wissen Sie das nicht mehr? Wenn Sie jetzt nicht auf der Stelle gut sind und mir die Hand darauf geben, daß Sie bei diesem Mädchen noch heute für mich werben wollen, und wenn Sie nicht Ihre Enveloppe und Ihren Hut nehmen, um hinüberzugehen, – so sehen Sie mich hier zum letzten Mal, so gebe ich Sie auf, so verlasse ich Sie, so erkläre ich der ganzen Welt, daß ich Sie für immer verlasse.“

Die Alte drehte sich herum, sah ihn an und warf sich ihm in die Arme. Dann machte sie sich, ohne ein Wort zu sagen, wieder los und ging mit einigem Pathos auf die Nebenthür zu, in’s andere Zimmer hinein. Nach wenigen Augenblicken kam sie zurück, den mächtigen Hut auf dem Kopfe, in ihren grauen Ueberwurf gehüllt, ganz zum Auszug gerüstet und in jedem Auge eine Thräne, die sie ruhig stehen ließ, als gehöre sie dahin. „Sie sehen, mein Wilhelm, ich gehe,“ sagte sie sehr gerührt. „Ich sage nichts weiter. Verlassen Sie sich auf Ihre Alte; fürchten Sie nichts! Sie hören von mir. Ich glaube, Ihre Sache ist in guten Händen, in ganz guten Händen, lieber Wilhelm! Haben Sie Vertrauen und Geduld und leben Sie wohl!“ Sie reichte ihm ihre Hand, die er sehr glückselig an seine Lippen drückte, sah ihn noch mit einem weinenden Lächeln an und glitt dann eilig hinaus.

„Der vortreffliche, einzige Mensch!“ sagte sie in Gedanken, indem sie unter ihrem Sonnenschirm über den Marktplatz hinweg schritt; „was seine alte Tante für diesen Menschen nicht thäte! – Wie er die Sache auffaßt! Wie glücklich wie unendlich glücklich er sie machen wird! Wenn es so steht, ja, dann ist es freilich das Beste, schnell zu Ende zu kommen. Karl ist ein schlechter Mensch, ein bösartiger Mensch; aber so lieblos will ich an ihm nicht handeln – was er freilich an meiner Stelle thäte – daß ich sein Gefühl für das Kind wachsen lasse, bis es unheilbar wird! Nein davor wird ihn diese beleidigte, verachtete alte Frau bewahren, die er nicht ausstehen kann! die sich trotzdem noch einbildet, mütterliche Pflichten gegen ihn zu haben! – Heirathen kann er ja das Mädchen nie. Der gute Wilhelm liebt sie, und für den ist sie wie geschaffen. Und der ist der Aeltere. Also verzichten Sie nur, lieber Karl, verzichten Sie! Lassen Sie sich bei Zeiten sagen, daß Annette für einen Andern auf der Welt ist, und drücken Sie Ihr armes Herz nur wieder zusammen, ehe es zu groß wird, und dann danken Sie Ihrer mißhandelten alten Tante Merling, daß sie zum Dank für Ihre Abscheulichkeiten Sie vor Ihrem Unglück bewahrt hat!“

In diesem freilich etwas unsicheren Gefühl ihrer Herzensgüte schritt sie eifriger aus und hatte bald, der alten Marienkirche gegenüber, das niedrige Haus erreicht, in dem sie die zukünftige Frau ihres Lieblings aufsuchen sollte. Annettens Eltern wohnten zu ebener Erde, und mehrere der Geschwister kamen der alten Dame gleich beim Eintritt entgegen. Sie liefen ihr mit Lärm voran, um sie zur Schwester zu geleiten und den Besuch schon von Weitem durch ihre hellen Stimmen anzumelden. Annette stand in der Küche, eine blanke weiße Schürze vorgebunden, und das Heerdfeuer schien roth über ihr Gesicht. Sowie sie die alte Demoiselle kommen sah, band sie hastig ihre Schürze los und eilte mit der ganzen Freundlichkeit ihres Wesens auf sie zu, um sie nach vorn in’s Wohnzimmer zu führen.

„Nein, nein,“ sagte Demoiselle Merling und schüttelte mit einiger Feierlichkeit den Kopf. „Kommen Sie in den Garten, meine Liebe. Ich habe Ihnen etwas zu sagen – etwas Besonderes zu sagen. Zu der Laube, – kommen Sie, mon enfant!“ – Und damit nahm sie Annettens Hand, drückte sie mehrere Male und zog das verwunderte Mädchen auf den Hof hinaus und dem Garten zu.


(Fortsetzung folgt.)
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 500. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_500.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)