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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

seine Gedanken nur an Eins geheftet und erfüllte sich nun ganz mit dem Gefühl, daß ihm die ernsteste Entscheidung seines Lebens bevorstehe. Er glaubte in seinem Innersten seine Bestimmung, sein Verhängniß zu spüren. Er dachte wohl auch an Wilhelm’s Schwärmerei in jener Nacht, aber nur, um über diese flüchtigen Wallungen zu lächeln und in der Ueberzeugung, daß er die Flamme völlig ausgebrannt wiederfinden werde. Seine Seele war ohne Sorge, denn er hatte sich ohnehin gelobt, sich nicht eher zu entscheiden, als bis die laute, jugendliche Stimme seiner Brust durch den gelasseneren Ausspruch der Vernunft bestätigt worden sei. Wie ungeduldig hatte er zwar unterwegs zu hundert Malen den beschäumten Hals seines Pferdes geklopft, wie ungestüm den Augenblick des Wiedersehens und den der Wahl in einen vermischt und alles Zuwarten als unerträglich verworfen; aber nach seiner alten Gewohnheit bezwang er sich dennoch und wiederholte immer wieder seinen Entschluß, bei dieser größten Probe der Männlichkeit sich auch als Mann zu bewähren. So ritt er endlich in das Stadtthor hinein, durch die engen und krummen Straßen zum Marktplatz hinaus und auf die Kirche zu, die allein noch im abendlichen Licht erglänzte. Vor Annettens Hause hielt er still, nahm sein ungeberdiges Herz zusammen, und indem er mit scheinbar gleichgültigem Gesicht vorn Pferde stieg, gab er es dem Diener zu halten und schärfte ihm ein, es auf dem Marktplatz, wo nicht der Kirchen-Zugwind blase, langsam umherzuführen und nach dem scharfen Ritt sich abkühlen zu lassen. Dann trat er in’s Haus hinein, fühlte nun erst die ungekühlte Gluth, die ihn selber durchwogte, und blieb eine Weile tief aufathmend stehen, um die Fassung, die er vor der kleinen Thür des Zimmers zu verlieren schien, erst zurückzugewinnen.

Nach einem kurzen Klopfen trat er ein; in einer der Fensternischen saß Annette, die das Geräusch überhört hatte, hielt ein kleines Buch vor sich aufgeschlagen und las bei dem letzten Tagesschein, welcher durch die Gardinen und zwischen den hohen Topfgewächsen auf die weißen Blätter hereinfiel. Ein dunkles Tuch war um ihren Kopf geschlungen, ihre Löckchen spielten in nachlässigster Verwilderung um die schmerzlich gedankenvolle Stirn. Eine schwermüthige Blässe lag auf dem Gesicht, oder das bleiche Licht schien sie so zu färben. Er betrachtete sie still und glaubte zu erkennen, daß sie nur mit den Augen las und mit der Seele hinaus irrte. Das kleine Buch däuchte ihn so wohlbekannt, er meinte, es im Wald auf ihrem Schooß gesehen zu haben. Von der melancholischen Lieblichkeit ihres Anblicks bewegt, blieb er eine Weile lautlos stehen, wo er stand; endlich sagte er mit gefüllter Stimme: „Mademoiselle Annette!“ Das Mädchen fuhr in die Höhe, schlug das Buch zusammen und erschrak heftig, als es ihn erkannte.

„Komm’ ich zur unrechten Zeit?“ fragte er sanft. „Ich wollte so dreist sein, Ihrer freundlichen Einladung zu gehorchen und mich Ihren werthen Eltern zu zeigen. Nicht, weil ich mir gern danken lassen möchte – denn hier ist nichts zu danken – sondern weil es mir eine herzliche Freude wäre, die Eltern von Demoiselle Annette kennen zu lernen.“

Während er noch sprach, bemerkte er, daß eine Aufregung in ihr arbeitete, die sie vergebens bekämpfte und die, da er sich ihr allein gegenüber sah, ihn selber ergriff. Ihre Pulse flogen, ihre Farbe begann hastig zu wechseln, und die etwas gerötheten Augen suchten seinen Blicken auszuweichen. Sie deutete, während sie ein bewillkommnendes Lächeln erzwang, auf einen Stuhl, wie wenn er sich setzen solle, stammelte mit vieler Mühe, daß es ihr leid thue – daß ihre Eltern nicht zu Hause seien und ob er nicht einstweilen hier warten wolle. Karl starrte sie in wachsender Verwunderung und Unruhe an, er wußte nicht, wie er sich diesen Empfang zu deuten hätte. Indem er es mit einer Handgeberde ablehnte, Platz zu nehmen, erwiderte er, daß sie das offenbar nur aus Höflichkeit sage; also sollte er lieber gehen. „Ich kann ja auch,“ setzte er hinzu, „an einem der folgenden Tage wiederkommen!“

„Freilich können Sie das,“ erwiderte Annette und suchte wieder zu lächeln, aber auf eine so unwahrscheinliche und fast schmerzliche Weise, daß er erschrak. Er trat endlich, um seiner bangen Unruhe ein Ende zu machen, näher auf sie zu und fragte mit lebhafter Stimme:

„Was ist Ihnen, Mademoiselle? Hab’ ich Sie so sehr zur Unzeit gestört? Leiden Sie, Annette?“

„Ich leide nicht,“ antwortete sie matt. „Ich habe wohl ein wenig Schmerzen hier oben,“ und damit deutete sie auf ihren Kopf und das dunkle Tuch, „aber das thut ja nichts. Ich bin ja dennoch – so glücklich. Sie kommen, um mir zu sagen –“ hier verstummte sie wieder und schien mit dumpfer Ergebung zu erwarten, was er zu sagen habe.

Eine tiefe Stille entstand, und Karl sah sie mit neuer Befremdung an. „Ich habe Ihnen nichts Besonderes zu sagen, Mademoiselle Annette,“ gab er endlich zur Antwort; „ich kam nur um Sie wiederzusehen – um Ihre werthen Eltern zu begrüßen. Ich höre mit Kummer, daß Sie wieder leiden. Mein erster Gang war zu Ihnen, liebe Mademoiselle,“ fuhr er herzlicher fort; „ich komme in diesem Augenblick hier an, ich habe noch Niemand gesehen. Es war mir ein Bedürfniß, zu hören, ob jenes kleine Sturzbad im Wald keine Folgen zurückgelassen.“

Sie schüttelte den Kopf, und ihre Verwirrung wuchs. „Sie haben noch Niemand gesehen?“ stammelte sie. „Aber Sie wissen doch –?“

„Was soll ich wissen?“ fragte Karl verwundert.

„Mein Gott, Sie wissen es nicht!“ Das Mädchen erblaßte wie die weiße Tünche an der Wand und verlor alle Fassung. Es schien, als ob sie sich nicht aufrecht halten würde; der erschrockene Karl sprang hinzu, um ihr beizustehen, um sie in seine Arme aufzufangen. Aber die erste Berührung seiner Hand gab ihr auf einmal alle Besinnung zurück. Sie wehrte ihn mit einer hastigen Bewegung ab, that einen Schritt nach rückwärts und sah ihn mit seltsam entschlossenen Augen an. „Lassen Sie mich, es ist nichts,“ sagte sie in fast herbem Ton. „Es war nur – ein Anfall. Dorette!“ rief sie hinaus, den Blick auf die halb offene Thür des Nebenzimmers gerichtet, „bringen Sie das Licht! Sie sehen, es wird dunkel! – Ich bitte, setzen Sie sich, setzen Sie sich;“ und ihre aufgeregt glänzenden Augen kehrten zu Karl zurück. „Sie wollten ja meine Eltern begrüßen. Es wird ihnen lieb sein, wenn Sie sie erwarten.“

„O nein, Mademoiselle, ich will gehen,“ erwiderte Karl, der mit steigender Beklommenheit ihrem rätselhaften Gebahren gegenüberstand. „Ich bin Ihnen zur Last. Es muß etwas vorgefallen sein, was ich nicht verstehe. Ich bitte Sie, Mademoiselle Annette, haben Sie die Güte, es mir zu sagen und mich von einer unerträglichen Unruhe zu befreien, oder gestatten Sie, daß ich mich entferne.“

Annette sah ihn an, aber schien ihn nicht zu hören. Ihre ganze Seele war aus den Augen zurückgewichen und mit dem Kampf in ihrem Busen beschäftigt; alle Kindlichkeit aus ihren Zügen ausgelöscht. Sie athmete schwer. Endlich kam das Mädchen mit dem Licht und setzte es auf den Tisch, der mitten im Zimmer stand. Annette fuhr aus ihren Gedanken auf, die Helligkeit schien sie zu erschrecken. Mit einer Anstrengung, welche die lieblichen Lippen verzog, rief sie die ganze lächelnde Verschlossenheit ihrer Züge zurück. „Sie sollen es nun endlich hören,“ sagte sie und blickte mit unruhiger Heiterkeit zu ihm hinüber. „Ich habe eine große wunderbare Ueberraschung für Sie! Errathen Sie’s nicht?“ Karl schüttelte ungeduldig den Kopf. Das Mädchen war still hinausgegangen; sie waren wieder allein. Der Tisch mit der Kerze stand zwischen ihnen, mit Büchern und Blättern und Schreibheften der Kinder bedeckt. Annette setzte sich hin; „nehmen Sie den Stuhl!“ wiederholte sie fast mit Heftigkeit.

„Was soll ich hören?“ fragte Karl verstört und setzte sich ihr gegenüber.

„Ich hoffe, es wird Sie freuen,“ sagte sie, und ihre Stimme fing an, leise zu zittern. „Ich dachte, Sie wüßten es –“ Sie hielt wieder inne; die Angst überkam sie, daß sie nicht gelassen endigen, daß ihre Kraft sie verlassen werde. Mit einer plötzlichen Bewegung ergriff sie ein Blatt, das auf dem Tisch lag, das eines der Kleinen mit Figuren, Häusern und Bäumen bekritzelt halte, und nahm einen Stift in die Hand. „Ich will es Ihnen aufschreiben,“ sagte sie mit wilder Heiterkeit, ohne ihn anzusehen. „Sie sollen es mit den Augen hören!“ Sie schrieb ein paar Worte in hastig ungleicher Schrift, dann schob sie dieselbe ihm mit einem zitternden Lächeln hinüber.

Karl nahm das Blatt mit beiden Händen und las. „Ich habe mich mit Ihrem Bruder verlobt,“ las er und las es von Neuem. Sie starrte in sein Gesicht; sie sah sein Entsetzen, sein langsames, unheimliches Erbleichen, wie wenn er den Sinn der

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 515. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_515.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)