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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

„Herr du meine Güte,“ oder im Englischen: „Lord Almighty! Sie liegen ja drauf!“

Ich drehte mich rasch auf die Seite und konnte die Thatsache nicht leugnen – die blauen Bänder verriethen das Unglück. Ob sie die Schuld trugen, ob sie durch den Luftzug hineingeweht waren und der Hut ihnen so nach und nach folgen mußte, ich weiß es nicht, aber da war er, an der ungünstigsten Stelle, die ein Damenhut möglicher Weise einnehmen kann, und dabei so flach, wie ein Pfannenkuchen.

„Oh good gracious!“ hörte ich die Dame ausrufen, als ihr Gatte den Verunglückten bei den Bändern an die freie Luft zog und den mißhandelten Kopfputz in die Höhe hob. In dem Moment aber pfiff glücklicherweise der Zug – es war die Station, auf welcher die Familie aussteigen mußte. Das Kind machte ihnen überhaupt Umstände, und sie durften nicht zögern. Das Letzte, was ich von ihnen sah, war, daß die unglückliche Frau, indem sie meiner Gardine noch einen Wuthblick zuwarf (das die Dankbarkeit, daß ich ihr das untere Bett überlassen!), im bloßen Kopf ausstieg, während ihr Mann, das Kind auf dem linken Arm, den mißhandelten Hut in der rechten Hand hoch an den Bändern haltend, folgte. Kaum zwei Minuten später rasselte der Zug wieder in die Nacht hinaus, und ich war gerettet.




Ein neuer Götze.

Mehr als dreihundert Jahre ist es her, daß der edle Ritter Ulrich von Hutten gegen die Ketzergerichte in Köln seine Briefe schrieb und jene Dunkelmänner für immer der Lächerlichkeit preisgab. Mehr als hundert Jahre sind verflossen, seitdem der bekannte Pastor Götze, von orthodoxem Glaubenseifer erfüllt, seine Bannstrahlen gegen den Herausgeber

Pastor Knak.

der Wolfenbüttler Fragmente schleuderte und dafür von dem unsterblichen Lessing die gerechte Züchtigung erhielt. Und wieder ist der alte Streit entbrannt zwischen der finsteren Nacht und dem hellen Licht, zwischen geistlicher Engherzigkeit und wissenschaftlicher Aufklärung, zwischen pfäffischer Unduldsamkeit und den Forderungen des fortgeschrittenen Zeitgeistes. Der Schauplatz dieses neuen Kampfes ist Berlin, die Metropole der Intelligenz, wo Friedrich der Große herrschte, Lessing lebte, Schleiermacher predigte, Fichte und Hegel lehrten. Nicht zum ersten Male erhebt hier die Orthodoxie ihr Haupt, um alle Errungenschaften der Bildung, alle Schätze des Wissens in Frage zu stellen und einen inquisitorischen Glaubenszwang über die Gemüther auszuüben. Schon unter Friedrich Wilhelm dem Zweiten erließ der berüchtigte Minister von Wöllner sein verrufenes Glaubens-Edict und suchte die von ihm unterstützte fromme Clique, wenn auch vergebens, durch Verfolgungen aller Art die Lehrfreiheit zu unterdrücken, die Geister zu fesseln, das Volk zu verdummen. Auch unter Friedrich Wilhelm dem Vierten gelang es der orthodoxen Partei, einen verderblichen Einfluß zu gewinnen. Die Uebergriffe, mit welchen sie die Freiheit des Gewissens bedrohte, steigerten nur die vorhandene politische Unzufriedenheit und wurden zu einem mächtigen Hebel für die liberale Bewegung, welche die Revolution des Jahres 1848 und den Sturz des Eichhorn’schen Systems herbeiführte.

Durch die nachfolgenden Ereignisse zwar beseitigt, aber durchaus nicht besiegt, hat die Orthodoxie keineswegs ihre Bestrebungen aufgegeben, sondern zuerst heimlich und bald wieder offen die verlorene Herrschaft durch alle ihm zu Gebote stehenden Mittel zurück zu erlangen gesucht. Eine Anzahl orthodoxer Theologen, an deren Spitze der viel genannte Pastor Knak steht, wiederholte im neunzehnten Jahrhundert dasselbe Schauspiel, welches im sechszehnten Jahrhundert die Kölner Ketzerrichter, im achtzehnten Ehren-Pastor Götze und sein Anhang boten. Der hochwichtige Streit, dessen Bedeutung und Tragweite sich noch nicht absehen lassen, entstand im Lager der Theologie selbst in Folge eines Jahresberichts der Friedrichswerder’schen Synode, den der freisinnige Prediger an der Neuen Kirche, Licentiat Lisco, über die Zustände des sittlichen und kirchlichen Lebens in Berlin abstattete. Unter anderen beherzigenswerthen Worten sagte er darin: „Und wie steht es mit der christlichen Erkenntniß? Jene einheitliche religiöse Weltanschauung, die, auf der festen Grundlage orthodoxer protestantischer Theologie ruhend, die Gemüther unserer Väter so tief befriedigte, wenn sie sie im Spiegel der Klopstock’schen Dichtung betrachteten, sie ist dahin; ein gewaltiger Culturproceß hat sie aufgelöst, hat sie auch denen unwiederbringlich zerstört, die sich selbst Orthodoxe nennen zu dürfen glauben. Die Naturwissenschaften haben das Weltbild der biblischen Schriftsteller durch ein anderes ersetzt, in welchem für das die Weltgesetze durchbrechende Wunder keine Stelle blieb; die Geisteswissenschaften haben mit einer alle Demuth der Theologie weit übertreffenden Bescheidung die Unzulänglichkeit des menschlichen Erkennens zur adäquaten Erfassung des Ewigen und Unendlichen zum Bewußtsein gebracht, sie haben erkennen gelehrt, daß Alles, was über Gott ausgesagt werden kann, nur Bild ist und Gleichniß einer mit Wort und Gedanke nie zu umspannenden Wirklichkeit, sie haben damit jedem Fanatismus die Wurzel abgegraben; Kritik und Geschichte haben die religiöse Entwickelung der Menschheit, die biblischen Thatsachen, die Bedeutung der religiösen Begabung des Einzelnen in einem neuen Lichte schauen gelehrt: das deutsche Volk erwartet mit heiterem Muthe den Riesen, der diesen Strom der Wissenschaften umzukehren nöthigen wird.“

Diesen Bericht veröffentlichte Prediger Lisco zuerst in der Protestantischen Kirchenzeitung, später, als er dazu von verschiedenen Seiten aufgefordert wurde, in Form einer besonderen Broschüre. Darüber ergrimmten seine orthodoxen Amtsbrüder dermaßen, daß sie auf der nächsten Synode eine feierliche Verwahrung gegen die „zweideutigen Ausdrücke“ des Berichtes, „für den Glauben der evangelischen Kirche und ihr Bekenntniß, insbesondere für den Glauben an Wunder, Weissagung und Gebetserhörung“ einlegen zu müssen glaubten. Vor Allen ereiferte sich Pastor Knak, der den Ausdruck „zweideutig“ viel zu gelinde fand und ausdrücklich an Lisco die Frage richtete: „Ob auch er (Knak selbst) zu den Orthodoxen gehöre, in denen jene einheitliche religiöse Weltanschauung zerstört sei?“

Hierauf vertheidigte sich Lisco gegen die ihm gemachten Beschuldigungen, indem er zum Schluße seiner Rede sich an seinen Gegner mit folgenden Worten wendete: „Ihnen, hochverehrter Herr Prediger Knak, schulde ich noch eine Antwort. Sie haben mich gefragt, ob auch Sie zu den von nur bezeichneten Orthodoxen gehören, in denen jene einheitliche religiöse Weltanschauung zerstört ist? Mit Ihrer gütigen Erlaubniß: Ja! Denn Sie mögen es wissen oder nicht wissen so haben auch Sie ohne Zweifel eine Menge von Elementen in Ihr geistiges Leben aufgenommen, die jene Weltanschauung zerstören. Sie werden z. B., um nur Eines zu erwähnen, schwerlich mit der Bibel das Feststehen der Erde und die Bewegung der Sonne um dieselbe behaupten.“ Mit errötheten Wangen erwiderte

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 521. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_521.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)