Seite:Die Gartenlaube (1868) 534.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Möbeln, Karten mit Würfeln, Brettspiele („Schachzagel“), ja selbst „von den gefangenen cliten im elend“ (Criminalverbrechern) gingen vier Schilling, gelöst „um einen Kappenzipfel und einen Filzhut“, ein.

Ein frisch-patriotischer, frommer Sinn trug vor Allem dazu bei, diesen großartigen Bau zu ermöglichen. Im Gegensatze zu dem Straßburger und zu anderen Münstern sollte der Dom aus eigenen Mitteln der Ulmer aufgeführt werden. Der Reichthum der Ulmer war in jener Zeit sprichwörtlich geworden:

„Venediger Macht,
Augsburger Pracht,
Straßburger Geschütz,
Nürnberger Witz
Und Ulmer Geld.
Regiert die Welt.“

Allein die Blüthezeit der damals dicht bevölkerten freien Reichsstadt ging vorüber, die Beiträge blieben nach und nach ganz aus, und heute noch ragen die herrlichen Formen des Münsters, verunziert mit einem Nothdache, als ein unvollendeter Bau zum Himmel empor.

Jenes bunte, schillernde, lebendige Treiben der Reichsstadt, wie es Hauff in seinem unvergänglichen Werke, dem „Lichtenstein“, schildert, ist längst erstorben. Die Stadt mit ihren ernst blickenden, hochgiebeligen Patricierhäusern, hinter deren gewaltigen Mauern die leichtfertigen Bauten unserer modernen Miethscasernen sich verstecken können, das altertümliche Rathhaus, die großen und kleinen Kunstbrunnen, die riesigen Wachtthürme mit den breiten Thoren: Alles zeugt von dem ehemaligen Wohlstand der freien Reichsstadt. Aber es ist nur eine sichtbare Tradition; wie Licht vom Schatten unterscheidet sich jenes willensstarke, stolze Ulm vom heutigen.

Aus dem Straßennetze ragt in steter Wiederkehr das Münster empor, wodurch der Fremde sich schnell zurecht findet. Eine kleine schmale Straße zu unserer Linken, „Auf der Dolle“, versperrt uns noch den vollen Blick, dann befinden wir uns auf dem Domplatz, vor dem Münster.

Es ist schwer, den Eindruck zu beschreiben, den dieser großartige Dom hervorruft. Ein solcher Reichthum künstlerischer Phantasie, eine solche Zierlichkeit der Formen gegenüber der wuchtigen Masse, die kühn und gewaltig als ein Riesendenkmal vollendeter Kunst emporsteigt, muß auf Jedermann, und sei es auch der unempfindlichste Beschauer, nachhaltig und ergreifend wirken. Am Thurme mit seiner verschwenderischen Ornamentik scheint sich die Phantasie des Baukünstlers erschöpft zu haben. Auffallend dagegen ist eine gewisse Monotonie, welche in den Seitenfacaden, ja selbst im Chöre herrscht, auf dessen reiche Gliederung die Baumeister sonst so bedeutendes Gewicht legen.

Die Aufnahme des Münsters in mein Skizzenbuch beschäftigte mich bis zum Abend. Die Donaunebel senkten sich auf die Stadt herab, wie hinter einem grauen Schleier ragten die Häuser empor, während hoch oben vom Dome ein einsames Licht aus dem Wärterstübchen herabschimmerte, dessen Bewohner die Feuer- und Wettersignale zu telegraphiren hat.

Für den nächsten Tag hatte ich mir die Besichtigung des Inneren und die Besteigung des Münsters aufgespart.

Es war Sonntag. Die Glocken hielten noch ihren Morgenschlummer, als ich vor der „Bauhütte“ neben dem Dome schellte, um den dort wohnenden Werkmeister, Herrn Seebold, zu bitten, mich in das Münster und in dessen oberen Labyrinthen hinauf bis in das enge Wärterstübchen zu führen. Eigentlich ist dies Sache des Küsters. Ich erwartete deshalb auch kein gerade freundliches Gesicht; trotzdem war Herr Seebold die Gefälligkeit selbst und um so bereitwilliger, als er erfuhr, daß ich speciell im Auftrage der Gartenlaube nach Ulm gereist sei, um über das Münster zu berichten.

„Die Geschichte des Münsters ist alt,“ erzählte mir mein Begleiter. „Der Bau wurde im Jahre 1377 begonnen. Der Sage nach hat[WS 1] man beim Beginn des Baues einen förmlichen Wald von Ulmen in das Fundament gerammt, welcher auf dem sumpfigen Boden den mächtigen Mauerwänden des Münsters als Rost zu dienen hatte. Bis zum Jahre 1507 bauten sechszehn Baumeister an dem Dome. Der bekannteste unter ihnen ist Matthäus Böblinger[WS 2] von Eßlingen, der im Jahre 1494 durch das Herabstürzen des Schlußsteins aus einem Gewölbe des Münsters während des Gottesdienstes flüchten mußte, um dem Zorne der Ulmer zu entgehen.“

Der alte, auf Pergament gezeichnete Originalplan, den ich Tags zuvor durch die Freundlichkeit des Herrn Professors Beesenmeyer auf der Ulmer Stadtbibliothek sah, enthält am Thurme die Randbemerkung: „Da hat angefangen zu machen an dem durm zu ulm mathes Döblinger.“ Ungeachtet seiner gewaltigen Verhältnisse sollte das Gebäude sich von den Kathedralen unterscheiden und den Charakter einer Pfarrkirche behalten, man gab ihm daher nur einen, nicht zwei Thürme an der Facade, beabsichtigte dagegen die Anlegung zweier kleiner Thürme neben dem Chöre, im Osten der Seitenschiffe, welche die halbe Höhe des Hauptthurmes einnehmen sollten. Der Grundplan war im Wesentlichen derselbe, wie er damals in den Pfarrkirchen vorkam: drei Schiffe von fast gleicher Weite und unmittelbar daran, ohne Kreuzschiff, ein fünfseitig angelegter Chorraum von der Breite des Mittelschiffes.

Wir schritten zunächst durch das imposante Hauptportal, welches von den beiden beinahe gleich hohen Seitenportalen flankirt wird. Das Thürbogenfeld enthält eine Fülle von Steinsculpturen, die ihren archäologischen Werth durch das hohe Alter haben. Dieselben sollen aus dem ältesten Gotteshause Ulms, der ehemaligen Allerheiligenkirche, herrühren und geben in ihrer Einfachheit der Darstellung ein treffendes Bild jener alten, schlichten Zeit und ihrer Kunstbestrebungen. – Ein kühler Luftzug wehte uns aus den hohen Hallen entgegen, als wir das gewaltige, Innere betraten, dessen Gesammtbreite von einhundert fünfundfünfzig Fuß diejenige des Kölner Domes, abgesehen von dessen Querschiff, übertrifft, während die Höhe des Mittelschiffs dem Kölner Dome ähnlich und zwar auf einhundert dreiunddreißig Fuß bestimmt ist. Wir staunen über die großartigen Verhältnisse! Das Innere überdeckt einen Raum von fünfundachtzigtausend siebenhundert und siebenzig Quadratfuß, nach Abzug aller Pfeiler, Säulen etc., so daß, wenn man zwei Quadratfuß Raum für einen Menschen rechnet, die Kirche, gedrängt gefüllt, die enorme Summe von achtundzwanzigtausend siebenhundert fünfundneunzig Menschen faßt. In dem Säulenwalde, welcher im Hauptschiff Kreuzgewölbe, in den zwei getheilten Seitenschiffen – das Innere ist seit dem Anfange des sechzehnten Jahrhunderts fünfschiffig – Sterngewölbe trägt, fällt uns nicht allein an den Säulenschäften, sondern auch an der Ausstattung des ganzen Inneren eine bis an’s Dürftige grenzende Schmucklosigkeit auf, welche mit dem verschwenderischen Reichthume der Ornamentik des Thurmes im schärfsten Contraste steht. Wahrscheinlich lag den Meistern dieses Riesenbaues an strenger Solidität der Ausführung.

Ueber dem Haupteingange befindet sich im Inneren die vom Orgelbauer Walker in Ludwigsburg erbaute berühmte Orgel, deren Gehäuse nach der Zeichnung des Dombaumeisters Thrän angefertigt wurde. Auf der linken Seite, am zweiten Pfeiler des Hauptschiffes, erhebt sich die Kanzel, mit ihrem überaus zierlichen, von Jörg Syrlin im Jahre 1510 aus Lindenholz geschnitzten gothischen Deckel. Wie diese ein wahres Kleinod mittelalterlicher Holzschnitzkunst ist und unser volles Interesse in Anspruch nimmt, ebenso fällt uns das reizende Sacramentshäuschen als ein Meisterwerk der Steinsculptur auf, welches hinsichtlich des Kunstwerthes mit dem in der Lorenzkirche zu Nürnberg befindlichen Tabernakel dreist in die Schranken treten kann. Früher nahm man allgemein an, daß Adam Kraft, der Meister des Nürnberger Sacramentshäuschens, auch das Ulmer geschaffen habe, bis Professor Haßler in Ulm, ein unermüdlicher Forscher der mittelalterlichen Kunst in Schwaben, vor dreißig Jahren zufällig auf dem Trödelmarkte eine alte geschriebene Privatrechnung des Patricier Haus Neidhardt fand, aus der hervorgeht, daß ein „Maister von Wingarten“ (Weingarten bei Ravensburg) der Verfertiger des Sacramentshäuschens ist.

Jörg Syrlin, den wir bereits als Schöpfer der prächtigen Kanzel kennen, hat für das Münster außerdem den nicht minder kunstvollen Taufstein und den Weihwasserkessel geliefert; sein bedeutendstes Werk aber sind die Chorstühle, welche in der Holzschnitzkunst unerreicht dastehen. Ein durchlaufender, reichgeschnitzter Baldachin, je nach der Anordnung wieder mit vorspringenden Ecken unterbrochen, bildet gleichsam den Kanzeldeckel der darunter angebrachten Brustbilder. Ueber diesen Baldachinen erheben sich hohe durchbrochene Pyramiden. Der Reichthum der Ideen giebt Zeugniß von der lebendigen Phantasie des Erbauers, welche sich sowohl in der Conception des Ganzen, wie in der überraschenden Ausführung des Einzelnen ausspricht. Sein Portrait, einen geistvoll

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: sah
  2. Vorlage: Döblinger; vergl. Berichtigung in Heft 36
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 534. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_534.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)