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aussehenden Kopf, sowie dasjenige seiner Frau, hat der Meister an einem der Chorstühle verewigt.

Eine kleine, links vom Hauptportale gelegene Thür führt zum Thurm. Wir hatten auf der engen Wendeltreppe lange zu steigen, dann traten wir durch ein ganz kleines Thürchen am sogenannten „Umgange“ heraus auf das freie Gerüst, um die Restaurationsarbeiten in Augenschein zu nehmen.

„Wir sind hier auf der hohen, luftigen Werkstätte der Steinmetzen angelangt, wo die einzelnen Werksteine zum Ganzen gefügt werden,“ sagte Seebold. Dann setzte er hinzu, während wir da oben auf einer Breite von drei Brettern außerhalb des Domes entlang gingen: „Nehmen Sie sich in Acht und sehen Sie stets auf’s Dach, nicht nach unten auf den Domplatz, wenn Sie nicht schwindelfrei sind!“ Mir war einen Augenblick in der sehr respectabeln Höhe neben der Dachtraufe allerdings nicht ganz behaglich zu Muthe, zumal auf dem freien Gerüste von einem Geländer keine Spur zu sehen war. Bald hatte ich jedoch den soliden, steinernen Bau des Umgangs unter den Füßen; ein steinernes Geländer, mit reizenden gothischen Rosetten (Pässen) geschmückt, schützte außerdem vor dem Herabstürzen, und so wuchs denn auch meine Neugierde, die Restaurationsarbeiten in unmittelbarer Nähe zu sehen. Der von der Sonne hell beleuchtete Neckarkeupersandstein, welcher bei der Restauration verwandt wird, glänzte wie weißer Marmor. Dicht unter uns reckte ein kolossaler, steingehauener Bär als Wasserspeier den Kopf mit den beiden Vordertatzen in die Luft. Sehr treu und charakteristisch gemeißelt sieht er aus, als ob er aus dem Atelier des besten Bildhauers hervorgegangen wäre. Er soll die nordwärts fliehende Urcultur, der weiter befindliche Adler die siegende Kirche etc. andeuten. Mächtige Strebebögen von siebenundsechszig Fuß Spannweite, die größten der Welt, jeder Stütze spottend, spannen sich als kühne Arcaden über uns. Mit einem Male hörte die Passage auf.

„Wir brechen hier in der nächsten Woche die Wände und Pfeiler durch, um den Bau des Umgangs weiter fortzusetzen,“ sagte mein Cicerone. „Wenn es Ihnen recht ist, gehen wir jetzt unter dem Dache über dem Hauptschiffe der Kirche nach dem Chore.“

Eine schmale Luke führte uns in den halbdunkeln, großen Raum. In unendlich langer Perspective zog sich über uns das Sparrwerk mit den Balkenlagen des Dachstuhls. Hier besonders fällt einem die eminente Ausdehnung des Münsters auf. An halbfertigen Werksteinen, Fragmenten von Dachziegeln, Schutthaufen vorbei, gelangten wir im Dämmerlicht durch eine Thür hinaus auf das Chor, welches von zwei Capellen flankirt wird, die jedoch später zwei Thürmen Platz machen sollen, deren Höhe die gegenwärtige des Hauptthurmes erreichen wird. In dem verwitterten Gestein des Chores haben die Dohlen ihre Nester aufgeschlagen und unterhalten dort Tags ein sehr lebhaftes Zwiegespräch.

Ich fragte Seebold, wo ich den Ulmer Spatz, dieses alte historische Wahrzeichen der Stadt, sehen könne.

„Den will ich Ihnen zeigen, sobald wir uns im Glockenhause befinden. Kennen Sie die humoristische Sage?“

Da ich in Schwaben schon öfters den „Ulmer Spatz“ zwar hatte nennen hören, mir aber noch nie ausführlich darüber erzählt wurde, bat ich ihn, mir Näheres mitzutheilen. Lächelnd berichtete er mir nun ungefähr Folgendes:

„Die Werkleute (Zimmerleute) Ulms wollten im grauen Alterthume einen langen Balken zum Thor hineinfahren. Sie hatten ihn aber überzwerch (quer) auf den Wagen gelegt und konnten so begreiflicherweise zum Thore nicht hinein. Sie überlegten, was da wohl zu thun sei, kamen jedoch zu keinem rechten Entschluß. Da flog ein Spatz, der einen Strohhalm im Schnabel hatte, diesen aber auch überzwerch hielt, zu seinem im Thore befindlichen Neste. Er flatterte hin und her, brachte jedoch den Strohhalm ebenso wenig in’s Nest, wie die Werkleute ihren Balken in’s Thor. Endlich faßte er den Strohhalm der Länge nach und trug ihn auf diese Weise glücklich in’s Nest. Die Werkleute aber sahen dies und nahmen sich ein Exempel daran. – Vor zehn Jahren wurde in Ulm während der Stadtverordneten Versammlung die Frage aufgeworfen, ob man dem Ulmer Spatz wieder seinen Platz auf dem Dachfirst des Münsters geben, oder ob man ihn nicht lieber fortlassen solle. Hitzige Debatten fielen hüben und drüben. Die eine Partei wollte nicht, daß durch Erneuerung dieses Denkmals kommenden Generationen Gelegenheit zum Spott auf die Ulmer geboten würde, während die andere Partei die Sache freisinniger auffaßte. Endlich entschlossen sich die Väter der Stadt, einen neuen Spatz an Stelle des alten, schadhaft gewordenen auf den Dachfirst, nahe dem Thurme, zu setzen, der denn auch jetzt seine Flügel vergnügt über Ulm ausbreitet.“

Vom Glockenhause ans sah ich den steingehauenen Spatz, der eine Höhe von ungefähr drei Fuß hat, von unten aber trotzdem klein erscheint.

Als wir uns unter den großen und kleinen Glocken des Münsters befanden, machte mich Seebold auf das „Zehn-Uhr-Glöckle“ aufmerksam, welches allabendlich den im Wirthshaus befindlichen Ulmern das Zeichen zum Heimkehren geben soll. Ich glaube aber – und die werthen Ulmer wollen mir das zu gute halten – daß die ehemaligen Reichsstädter dieses Läuten eher als ein Zeichen des Beisammenbleibens im „Hasen“ oder „Rößle“ auffassen, wenigstens fand ich nach zehn Uhr noch sehr heitere Gesellschaft, war dessen froh und – blieb auch sitzen.

Wir stiegen im „Schneckenhause“ des Thurmes die enge Wendeltreppe weiter hinauf und gelangten auf die oberste Galerie, welche das Nothdach mit dem engen Wärterstübchen umgiebt. Man hat da oben eine unendlich weite Aussicht, so entzückend schön, daß man nur schwer sich zur Rückwanderung entschließt. Noch einen Blick sandte ich dem am fernen südlichen Horizonte blitzenden Silberstreifen, dem Bodensee, mit der Alpenkette, zu und stieg dann wieder aus der luftigen Höhe hinab zum Leben und Treiben der Menschen.

Dem echten Ulmer glänzen die Augen feuriger, wenn man auf das Herzenskind zu sprechen kommt: das Münster. „Nur der Thurm, der Thurm!“ hört man da oft ausrufen. Ja, freilich, wäre der vollendet und sähe mit seinem Muttergottesbilde auf der Spitze weit, weit in die Lande, selbst über die Kreuzblumen der Thürme des Kölner Domes hinweg, dann erst würde der Ulmer mit wahrem Stolze hinausblicken zu dem hehren Denkmal seiner Vaterstadt. Und dies mit Recht! Mag man dem Inneren, den Seitenfacaden, ein absichtliches vernachlässigen des Ornamentalen, mag man einzelnen Portalen das Ausarten der Gothik vorwerfen: kein Thurm, die Thürme des Kölner Domes eingerechnet, zeigt einen solch märchenhaften Reichthum der Phantasie, eine solch’ wunderbare Ornamentik, wie derjenige des Ulmer Münsters. Es ist der Thurm der Thürme.

Und unvollendet sollte dieses imposante Kunstwerk bleiben? Ein Riesentorso der Baukunst, ohne Kopf und ohne Krone? Den prachtvollen, nur bis zur Hälfte vollendeten Thurm deckt ein unschönes Nothdach. Der noch vorhandene alte Originalplan des Baukünstlers hat die Gesammthöhe auf fünfhundert Fuß fixirt; sie würde demnach fast die Höhe der St. Peterskirche in Rom erreichen und die Thürme des Kölner Münsters überragen.

Der Dombaumeister Thrän, welcher die Restauration des Münsters leitet, wurde vor vier Jahren aufgefordert, einen Kostenanschlag über die vollständige Restauration und den Aufbau der Thürme zu machen. Die Berechnung belief sich allerdings auf zwei Millionen Gulden. Das ist viel! Sollte aber dennoch die gesammte Christenheit die Summe nicht ausbringen können? Es handelt sich hier nicht sowohl um den Ausbau des größten protestantischen Gotteshauses, als auch um eines der bedeutendsten und schönsten Denkmäler deutscher Baukunst.

Glockengeläute und Kanonensalven sind jüngst über dem Denkmale des großen Reformators verhallt; die Flammenbäche seiner Lehre zündeten in mehr als einer Zone; sollte da, wir wiederholen es, das größte protestantische Gotteshaus unvollendet bleiben?

Wir glauben es nicht!

Wie vor einigen Jahren für den Kölner Dom, ist gegenwärtig für das Ulmer Münster eine Dombaulotterie auf Anregung des Dombaumeisters Thrän eröffnet. (Das Loos kostet zehn Silbergroschen oder fünfunddreißig Kreuzer süddeutsche Währung.) Nach Abzug der Kosten und Gewinne würden, wie ich erfahre, siebenzigtausend Gulden zur Restauration des Münsters übrig bleiben. Wären die Mittel vorhanden und könnte ununterbrochen fortgearbeitet werden, so würde die Restauration in elf Jahren vollendet sein.

Wünschen wir dies nicht blos, sondern möge jeder Einzelne, sei es durch Abnahme von Loosen, sei es durch Sammlungen etc., einen Baustein zur Vollendung des Ulmer Münsters beitragen!

Robert Aßmus.



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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 535. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_535.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)