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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Volkslebens,[1] als wir auf unserer gemeinschaftlichen Wanderung durch das heimathliche Gebirg – es war jene verhängnißvolle letzte, die so plötzlich und so zu sagen unter unseren Augen den frühen Tod des theuren Freundes herbeiführen sollte – in Waldesschatten gelagert dem lieblichen Getön der Waldglocken mit ganzer Hingebung lauschten.

„Ach, laß uns doch der in der Nähe weidenden Heerde einen Besuch abstatten,“ versetzte Sigismund weiter; „ich möchte mich so gern von dem biedern Hirten selbst in die Mysterien seiner Theorie einführen lassen. Es gehört, wie Du weißt, zu meinen angenehmsten Genüssen, die mannigfaltigen Berufstätigkeiten, Lebensformen und Anschauungen der Menschen, namentlich der Gebirgsbewohner, die ja ihre Kindheit am treuesten bewahrten, zu beobachten.“

„Herzlich gern; und das wird Dir hier jedenfalls am leichtesten gelingen, da wir zufällig das Glück haben, in diesem Hutmanne zugleich einen ,Schellenrichter’ zu finden, das heißt, einen musikalisch gebildeten Hirten, der zur Winterszeit als ,Adjuvant’, bei Kirchen- und Tanzmusiken die Trompete oder das Horn bläst, vor Allem aber die wichtige Kunst versteht, die Schellen zu ,richten’ (harmonisch zu stimmen), und der sonach mit den Tonverhältnissen und Stimmung der Geläute genau bekannt ist.“

Die schlichte, liebenswürdige Weise, in der es Sigismund so herzgewinnend verstand, mit dem Volke, selbst mit den niedrigsten Leuten zu verkehren und sich in die Lage und Weltanschauung armer Menschen, wie er selbst sagt, zu träumen, verfehlte auch in diesem Falle ihre Wirkung nicht. Der freundliche Hirte, durch die dargebotene Cigarre noch geneigter und gesprächiger gemacht, entwickelte, wenn auch in etwas weitschweifiger und verworrener Rede, sofort seine Harmonielehre, und wir verfehlten natürlich nicht, ihm mit geeigneten Fragen zu Hülfe zu kommen.

Als Resultat unserer Hirtenstudien, die noch durch anderweitige Erkundigungen und Erfahrungen ergänzt und erweitert wurden, dürfte sich etwa folgende geordnete Darstellung ergeben: Jedes Geläute bildet einen reingestimmten, vollständigen Accord (Dreiklang), der stets einer dur-Tonart angehört. Geläute in moll, die offenbar einen elegischen Charakter annehmen würden, giebt es nicht; das heitere Gemüth des Gebirgssohnes, liebt keine krankhaft-modernen Stimmungen. Dieses beweisen auch die thüringischen Volkslieder, die sich sämmtlich in dur bewegen.

Die Einzeltöne (Intervalle), aus denen der Accord des Geläutes besteht, werden durch die an Größe verschiedenen Glocken („Schellen“) zwei bis drei Octaven hindurch verdoppelt angeschlagen, und zwar so, daß ein und dasselbe Intervall durch Glocken von gleicher Stimmung mehr oder weniger verstärkt ertönt. Je zahlreicher also die gesammte Heerde ist, desto mehr „wummert“ das Geläute und klingt wie „völlige Musik mit der ganzen Orgel“.

Die Tonhöhe oder die Tonart des zu Grunde liegenden Accordes und die durch dieselbe bedingte charakteristische Klangfarbe bezeichnet der Hirt auf seine Weise. Hohe Geläute, die in C-, Des-, D- oder Es-dur stehen, nennt er „kingsche“ (kindische, kleine); hingegen solche, die tiefer als C, also in H-, B-, A- oder As-dur erklingen, „grobsche“ (grobe, tiefe).

Das Grundgesetz der Harmonielehre, nach welchem jeder Dreiklang in drei Formen (Versetzungen, Umkehrungen) auftreten kann, ist auch der Hirtentheorie bekannt, und sie gründet sogar auf dieses Gesetz ihre dreierlei Formen accordlicher Stimmung mit volkstümlicher Bezeichnung.

Der Dreiklang erscheint bekanntlich entweder als reiner Dreiklang, wenn er aus Grundton (Tonica), Terz (Obermediante) und Quinte (Dominante) (5 3 1), für C dur also aus (g e c) besteht (Fig. 1. A. B. 1.); oder er, wird durch Versetzung (Umkehrung) zum Sextenaccord, wenn man die ursprüngliche Terz (Obermediante) zum untersten Tone annimmt und dadurch die in ursprüngliche Quint (Dominante) zur Terz, die in die Octave gesetzte Tonica aber zur Sexte macht (6 3 1) , in C dur also (c g e) (Fig. A, 2; B, 3.). Durch eine abermalige Versetzung entsteht endlich der Quartsextenaccord (6 4 1), indem die ursprüngliche Quinte (Dominante) als Grundion, die Tonica als Quarte und die Terz (Obermediante) als Sexte erscheint, in C dur also (e c g) (Fig. A, 3; B, 2.).

Hat nun 1) ein Geläute den reinen Dreiklang (5 3 1), natürlich mit Verdoppelung der Intervalle durch mehrere Octaven, und ist also die tiefste Glocke, der „Baß“, zugleich auch der Hauptton (Tonica) desselben, so sagt der Hirte es ist nach der „Drompedden“ oder dem „Signalhorn“ gestimmt, weil nämlich diese Instrumente die Tonics als tiefsten natürlichen Ton haben.

2) Steht hingegen ein Geläute im Quartsextenaccord (6 4 1), erscheint also die tiefste Glocke, der „Conderbaß“, als Dominante (Quinte oder Unterquarte), so ist dasselbe nach der „Bergmannscither“ gestimmt, denn die leeren Metallsaiten dieses Volksinstrumentes haben ebenfalls die Quartsextenstimmung.

3) Endlich kann auch ein Geläute. einen Sextenaccord (6 3 1) bilden, wenn die tiefste Glocke als „Generalbaß“ die Stelle der Mediante (Terz oder Untersexte) einnimmt, und es entsteht dann eine Stimmung nach der „Clarnetten“ (Clarinette), deren tiefster, natürlicher Ton ja auch mit der Mediante anhebt.

Geläute im Quartsext- und Sexten-Accord, die übrigens außerordentlich anmuthig klingen und darum auch die beliebtesten sind, haben also außer dem eigentlichen „Baß“ (Tonica) noch tiefer liegende „Conder- und Generalbässe“, und der Hirt sagt von denselben wohlgefällig: „sie gehen contra“. Sein musikalischer Instinct findet ganz richtig einen gewissen Widerspruch darin, daß zwar die „General- und Conderbässe“, von denen er stets höchst respectvoll spricht, die tiefsten („gröbsten“) Töne, aber nicht die eigentlichen Haupttöne sind, auf die der Accord des gesammten Geläutes gegründet ist. Einen „General- oder Conderbaß“ zu tragen, gilt als hohe Ehre für eine Kuh und deren Besitzer!

Aber nicht nur für die Tonhöhe und die accordliche Stimmung der Geläute hat man eigenthümliche Benennungen, sondern selbst für die einzelnen Intervalle, respective Glocken, die den Accord bilden, und zwar, in jeder Octavenlage verschieden und theilweis sogar das akustische Verhältniß andeutend.

So heißt also:

1) der Hauptton oder die Tonica jederzeit „Baß“ oder „Ganz-Stumpf“ (von der abgestumpften Form der Glocken);

2) die Terz (Obermediante) „Mittelstumps“, die Mitte zwischen Tonica und Dominante bildend;

3) die Quinte (Dominante) „Mengel“, d. i. der sich mit der Tonica und deren Octave mengende, mischende Ton, der Mitklinger (Aliquot- oder Ober-Ton);

4) die Octave „Halbstumpf“, auch zuweilen „Octävchen“, das akustische Verhältnis 1:2 bezeichnend;

5) die Terz der Octave „Auwschellen“, d. h. Schafschelle. In dieser interessanten Zusammensetzung hat sich mundartlich noch das althochdeutsche ouwî (mittelhochdeutsch ouwe, aue; lateinisch ovis, englisch ewe) = Mutterschaf erhalten, sowie auch im westphälischen und Schweizer Dialect au noch eine gleiche Bedeutung hat;

6) die Quint der Octave „Beischlag“, mit ähnlicher Bedeutung wie „Mengel“;

7) die zweite Octave „Lammschellen“;

8) die Terz der zweiten Octave „grober Beller“ oder „Biller“;

9) die Quint der zweiten Octave „klorer (klarer, kleiner) Beller“ oder „Biller“ darunter versteht man größere und kleinere Glöckchen


  1. Gewiß erinnern sich die Leser dankbar der vielen, trefflichen Beiträge, die B. Sigismund auch für die Gartenlaube geliefert, und werden mit uns eine soeben vorbereitete Gesammtausgabe seiner zerstreuten Arbeiten freudig begrüßen.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 600. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_600.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)