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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)


nicht auch, daß ein Pfad hier gerade durch die Felsen hinunterführe? Richtig, dort zwischen den Steintrümmern zieht es sich deutlich hinunter, wie das ausgewaschene Rinnsal einer Quelle. Es geht zwar etwas steil hinunter, und der Bergstock wird tüchtig herhalten müssen … Gleichviel! Ich wage es auf eigene Gefahr; ich will nicht umsonst an der schiechen Wand herumgestiegen sein und will zeigen, daß ich das Klettern gelernt habe. Jedenfalls bin ich ein Stündchen früher an Ort und Stelle als Alle.“ Während dieses halblauten Selbstgespräches war die Absicht auch zum Theil schon ausgeführt und Günther in vollem Herabsteigen begriffen.

Unten auf der Blümelalm war Tonerl indessen schon lange geschäftig gewesen, ihre Hütte, wie sie es nur vermochte, auf das Schönste und Beste auszuschmücken. Sie hatte Tannenzweige vom nahen Walde geholt und zu einem Gewinde gebunden, das sich über der Thür gar stattlich ausnahm. Das holzgebretterte Stübchen mit dem Heerde war zwar schon lange gefegt und gereinigt, daß die weißen, leicht gebräunten Fichtenbretter so blank aussahen, wie eine reingescheuerte Tischplatte. Dennoch fand das Mädchen immer noch etwas zu säubern und zu putzen. Mit einem aus rothem Haidekraut zusammengebundenen Besen ward jedes Stäubchen von dem Crucifix in der Ecke, sowie von den gemachten Blumenbüschen darunter und von den paar Bildern an der Wand abgekehrt, die Milchgeschirre und Schüsseln wurden von ihrem Platze genommen und wieder und wieder zurecht gerückt. Es war ein guter Ableiter für ihre Ungeduld, daß eine kranke Kuh, die ihrer Pflege bedurfte, sie nöthigte, manchmal im Stalle nachzusehen; so oft sie aber nur konnte, trat sie unter die Thür, um nach allen Seiten zu spähen, ob noch Niemand von den erwarteten Gästen sich blicken lasse. „Ich schau’ mir fast die Augen aus dem Kopf heraus,“ murmelte sie, „es kommt halt immer nichts! Es wird doch nichts dazwischenkommen sein? Das wär’ eine dumme G’schicht’.“ Dann kehrte sie unmuthig wieder zurück und trat an den Heerd, wo Holz und Kessel schon zurecht gemacht waren, um für die Gäste zu kochen, und fing in der Unruhe ihres Gemüthes wieder an, das Holz durcheinander zu stören, um es dann wieder anders aufzurichten. Sie hatte sich so sehr auf die Ankunft der Fremden gefreut, und die Freude war ihr arg in den Brunnen gefallen, denn am Tage nach dem Eintreffen des Anmeldebriefes hatte die Dirne, welche als Sennerin auf der Blümelalm war, einen gefährlichen Fall gethan, und die Bäuerin, welche den werthvollen Platz mit der großen Heerde nur einer ganz verlässigen Person anvertrauen wollte und im Hintergrunde ihrer Gedanken wohl auch noch andere Gründe haben mochte, hatte für gut gefunden, die Tochter auf die Alm zu schicken, um die Sennerin abzulösen. Wenn sie es auch nicht gern that, war Tonerl doch nichts übrig geblieben, als zu gehorchen, und so kam es, daß sie die preußischen Sommergäste, die einige Tage später eingetroffen waren, noch gar nicht zu Gesicht bekommen hatte. Das war ihr auf die Dauer um so ärgerlicher geworden, als es zu Anfang der Woche war und sie nicht hoffen durfte, daß vor Ende derselben Jemand heraufkommen und ihr Nachricht bringen würde; darum war es ihr eine doppelte Freude gewesen, als in den letzten Tagen der Bub zum Abtragen heraufgestiegen kam und ihr die Botschaft brachte, sie sollte Sonntags nicht hinunterkommen, die Bäuerin wolle mit den Fremden heraufsteigen und den ganzen Tag auf der Alm zubringen.

„Ja, ja – es wird schon so sein, wie ich sag’,“ rief sie, indem sie wieder aus der Thür trat und sich auf der Gräd’ niedersetzte. „Die Preußischen haben net aus den Federn gekonnt, sonst müßten sie schon lang’ da sein. Wenn man net gar kriecht, wie die Schnecken, ist man in drei Stunden heroben, und jetzt muß’s schon stark auf Neun geh’n; der Schatten vom Gamskogel legt sich schon fast bis zur Hütten herüber.“

Verstummend stützte sie den Kopf in die Hand, es war, als wolle sie ihren eigenen Gedanken und den Regungen ihres Herzens lauschen, und sie wußte selber nicht, wie es kam, daß sie mit einem Male zu singen anfing, zwar anfangs nur leise, wie man vor sich selber hinsummt, dann aber immer lauter und bald mit voller Stimme; es war, als ob ihr mit dem Singen ein Stein vom Herzen fiele, und als ob gerade das Singen die Zerstreuung wäre, deren sie in ihrer Stimmung bedurfte. Plötzlich unterbrach sie sich aber, denn von der Bergschneide gegenüber hallte ein Juhschrei herunter. „Der Ambros!“ sagte sie hastig vor sich hin und grüßte und juchzte entgegen, wie es ihr noch selten so freudig und laut aus der Kehle gegangen war. „Es ist noch wer bei ihm,“ sagte sie wieder für sich. „Das kann wohl kein anderer Mensch sein, als er …“ Sie wußte wieder nicht, wie es kam, aber sie fühlte, daß es ihr siedend heiß über Wangen und Nacken lief, und in die Kniee kam es ihr wie ein plötzliches Zittern und eine Schwäche, daß sie wieder auf der Gräd’ zusammenkauerte. Im Herzen aber wollte es ihr mit einem Male so unruhig werden, daß sie mit beiden Händen nach der Stelle fuhr und sich zugleich schüchtern umsah, als fürchte sie, von irgend Jemandem belauscht zu werden. „Wie g’schieht mir denn?“ fragte sie sich selbst. „Warum ist mir denn so eigen? Ein Glück, daß Niemand da ist! Wenn mich Jemand so seh’n thät’, der müßt’ wahrhaftig glauben, es wär’ nimmer richtig mit der Funkenhauser Tonerl, und das ist ja doch wohl net wahr.“ Sie war recht froh, daß das kranke Thier im Stalle sich regte, die unangenehme Selbsterforschung unterbrach und sie zwang, sich auf Augenblicke mit anderen Dingen zu beschäftigen. Sie vergaß darüber das Warten und die Ungeduld des Wartens; aber das währte nicht lange, und kaum war das Geschäft vorüber, als das Alles mit doppelter Stärke wieder über sie zurück kam und sie wieder unter die Hüttenthür trieb. Darüber gewahrte sie nicht, daß Günther vom Walde eilend herangekommen war, und als er mit lautem, fröhlichem „Grüß Gott!“ auf dem Rasenplatz vor der Hütte ihr gegenüber trat, stand sie vor ihm athemlos und rathlos, ein vollendetes Bild des Schreckens.

„Wie, Toni,“ sagte er lachend, „komm’ ich Dir so sehr unerwartet, daß Du vor mir erschrickst?“

„O, ich erschreck’ net,“ antwortete sie, nach Fassung ringend. „Wenn man ein gut’s G’wissen hat, fürcht’t man sich vor kein’ Menschen. I hab’ nur im ersten Augenblick ’glaubt, es kommen Schelmenleut’.“

„Schelmenleut’?“ fragte Günther, indem er Gewehr und Waidsack ablegte. „Was ist das für ein Geschlecht?“

„Wissen Sie das net?“ sagte Toni. „Bei uns ist das Wort halt so im Brauch. Giebt’s bei Ihna in Preußen keine Schelmenleut’? Wissen S’, das sind solche Leut’, die nichts arbeiten und die nichts haben, weil sie nichts arbeiten, und weil sie nichts haben, holen sie das, was sie brauchen, wo anders her und langen zu, wo ’was zu finden ist.“

„Hm, derlei Leute giebt es leider auch in Preußen im Ueberfluß,“ entgegnete Günther. „Aber das Wort Schelm braucht man bei uns meistens in anderer Bedeutung. Man sagt z. B. von einem hübschen, muthwilligen Mädchen, wie Du bist, sie habe den Schelm im Nacken, oder der Schelm gucke ihr aus den Augen oder sitze in solchen Grübchen, wie sie sich gerade jetzt in Deinen Wangen so reizend bilden.“

„Ah, närrisch!“ rief das Mädchen, sich zum Lachen zwingend. „Was Sie Alles g’lernt haben, seit Sie aus g’wesen sind! Aber ich will doch net denken, daß Sie nur deswegen auf die Blümelalm ’kommen, um mir von derer Schelmerei z’ erzählen?“

„Nein,“ rief Günther herzlich und streckte ihr beide Hände zum Gruße hin. „Ich bin gekommen, weil ich Dir ‚Grüß Gott‘ sagen will. Sind es doch bald acht Tage, daß wir hier sind, und ich habe Dich noch nicht zu Gesicht bekommen.“

„Ja, ja, so geht’s halt,“ sagte Tonerl. „Ich hab’ auf die Alm ’rauf müssen, weil sich die Sennerin so arg erfallen hat. Es ist mir leid g’nug g’wesen,“ fügte sie etwas übereilt hinzu.

„Wirklich? Hat es Dir leid gethan?“

„G’wiß. Es ist wohl schön auf der Alm, aber manchmal ist’s halt doch gar zu einsam. Aber wie ist denn das?“ fuhr sie einlenkend fort, indem sie auf die Bank an der Thür wies, „ich muß Ihna doch einen Sitz antragen, Herr Günther – wie kommen Sie denn in mein’ Almhütten? Sind Sie denn net erst vor einer halben Stund’ da droben auf der Schneid’ g’standen, wie mir der Ambros ’runter g’juchzt hat?“

„So hast Du mich erkannt?“ rief Günther, indem er sich neben sie setzte. „Allerdings war ich da oben. Wir haben einen Gemsbock geschossen; Ambros trug ihn zu den Holzknechten hinunter und hieß mich inzwischen auf ihn warten – aber ich habe das nicht ausgehalten, so vor mir unten im Thale die Hütte zu sehen und Dich darin zu wissen; deshalb bin ich herunter, um Dich zu begrüßen, ehe die Anderen alle kommen. Wenn sie da sind, kann man das doch nicht so herzlich und so offen wie unter vier Augen.“

(Fortsetzung folgt.)
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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 612. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_612.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)