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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Daß das Judenthum lebt und in seinen Wurzeln nicht abgestorben ist, können Sie in jeder Stadt und in jedem Dörfchen sehen, wo eine Gemeinde ist. Und warum wollen Sie es nicht leben lassen? Wurzelt es nicht, so gut wie das Christenthum, in einem höheren sittlichen Inhalt, der sich nur in besonderen, durch Geschichte und uraltes Herkommen geheiligten Formen offenbart, die Niemand stören und schaden und die Mancher nur fremdartig oder lächerlich findet, weil ihm die eigenen Gewohnheiten natürlich geläufiger und verständlicher sind? Muß denn Alles über einen und denselben Leisten geschlagen sein?“

Der Mann hatte die letztere Frage mit so eigenthümlicher Wehmuth betont, daß der große Tondichter seine Hand ergriff und sie herzlich drückte. „Sie haben mir,“ sagte er, „eine schöne Stunde bereitet und ich kann Ihnen wohl am Besten durch die Erklärung danken, daß es der Enkel Moses Mendelssohn’s ist, zu dem Sie gesprochen haben. Kommen Sie morgen zu mir.“ Hiermit übergab er dem Knaben seine Karte und war schnell in den Windungen der Anlagen verschwunden.

Als der Greis mit seinem Knaben am andern Tage in der Wohnung Mendelssohn’s erschien, breitete er mit thränenfeuchtem Auge und feierlicher Geberde, ein hebräisches Gebet murmelnd, seine Hände gegen den Meister aus und empfing dann von diesem Briefe, welche ihm selber eine beträchtliche Aufhülfe, dem Knaben aber auf Jahre hinaus in Berlin eine gute Erziehung nebst ausreichendem Unterhalte sicherten.

Dieser Knabe ist freilich kein Reformator der russischen Juden, sondern ein hochgebildeter, durch seine aufopfernde Menschenfreundlichkeit sowohl, als durch geistvolle schriftstellerische Leistungen ausgezeichneter Arzt geworden, der in der preußischen Stadt, wo er seit Jahren wirkt, sich einer weit verbreiteten Praxis und eines hohen Ansehens erfreut. Der zeitgemäßen Reform des mittelalterlichen Judenthums, und namentlich der Aufklärung seiner russischen Brüder wendet er aber, im Sinne seines Vorfahren, noch immer eine warme Aufmerksamkeit zu, wie er auch alljährlich, wenn das trauliche Fest der Laubhütten wiederkehrt, alle seine Lieben zu heiterem Mahle um sich versammelt und mit inniger Dankbarkeit der wunderbaren Schicksalswendung gedenkt, welche einst für ihn an diesem Abend aus dem altjüdischen Festsegen des längst zu seinen Vätern Heimgegangenen Großvaters entsprossen ist.




Als ich vor einiger Zeit auf dem Tische einer befreundeten Familie das nunmehr hier beifolgend mitgetheilte Bild Oppenheim’s fand, wurde ich durch eine unwillkürliche Ideenverbindung an die vorstehende Geschichte erinnert, welche von der Dame, der sie Mendelssohn erzählt hatte, niedergeschrieben und seit Jahren in meinen Besitz gekommen ist. Was hier und da im Ausdrucke und der Abrundung der einzelnen Wendungen der Hand der Erzählerin angehört, kann füglich dahingestellt bleiben. Dem Geiste sowohl als den Thatsachen nach ist der Vorgang keineswegs erdichtet, und kann wohl als Einleitung zu einer Erklärung altjüdischer Gebräuche und Feste dienen, die eben jetzt schon mannigfach ihr früheres Gepräge, die Festigkeit ihres Bestandes verloren haben und in einer Krisis, einem Uebergange zu neuer, dem Bewußtsein des heutigen Geschlechtes mehr angemessener Gestaltung begriffen sind.

Zu diesen Festen gehört auch das sogenannte Laubhüttenfest, bekanntlich eines der altbiblischen, schon vom mosaischen Gesetze (3. Buch Moses 23, 33–44) angeordneten Hauptfeste der Juden, das noch jetzt in allen jüdischen Gemeinden mit festlichen Abend- und Vormittagsgottesdiensten gefeiert wird. Ein Rest eigenthümlichen poetischen Schimmers, der von jenen uralten Tagen her dieses von sinnigen Gebräuchen durchwobene Fest umgeben hatte, ist ihm in allem Wandel der Zeiten und Anschauungen auch heut’ noch verblieben und in manchen Gegenden haben wir es von der christlichen Bevölkerung das „grüne Fest“ der Juden nennen hören. Ursprünglich in Palästina war es ein großes Nationalfest, das ganze Volk strömte aus allen Städten und Dörfern des Landes nach Jerusalem, das sich, zur Erinnerung des einstmaligen Zeltlebens Israels auf seinem Wüstenzuge, in ein einziges Lager frisch grünender Hütten verwandelte. Diese Bedeutung ist nach der Auflösung des jüdischen Staates allmählich hinter anderen, mehr im Familien- und Gemeindeleben wurzelnden, mit dem Laufe des Jahres und der Jahreszeit zusammenhängenden Deutungen zurückgetreten.

Das Laubhüttenfest fällt in jenen Monat des jüdischen Kalenderjahrs, der sich z. B. dieses Mal vom 17. September bis zum 17. October erstreckt und als ein eigentlicher Festmonat im Jahreslaufe der Juden bezeichnet werden muß. Die ersten zehn Tage dieses Monats heißen die zehn Bußtage. Sie beginnen mit dem Neujahrsfest und schließen mit dem höchsten und heiligsten aller jüdischen Feiertage, dem sogenannten Versöhnungsfeste, hebräisch Jom Kippur, in christlichen Volkskreisen „die lange Nacht“ genannt. Ist diese Zeit ernster Betrachtungen und Gemüthsbewegungen mit den wehklagenden Melodien ihrer Buß- und Bittgesänge, mit ihren strengen Fasten und feierlichen Versammlungen, ihren Sterbekleidern und Erinnerungen an menschliche Vergänglichkeit vorüber – es ist in der That eine Zeit tief ernster Sammlung, eine Zeit der Versöhnung und Erhebung für jedes der alten Sitte noch nicht abhold gewordene jüdische Haus – so tritt der Familienvater an einem der nächsten Tage in seinen Hof oder Garten, oder, wenn er Miether ist, auf das zu diesem Zwecke ausbedungene Fleckchen Erde und beginnt mit seinen dabei voller Freude behülflichen Kindern ein eigenthümliches Geschäft. Es werden Pfähle in die Erde gerammt, Bretter herbeigeholt, Nägel eingeschlagen und die Arbeiten des Hämmerns und Zimmerns, Fügens und Bauens so lange fortgesetzt, bis sich ein zierliches und lustiges, oben mit Tannenreisig oder anderen grünen Zweigen gedecktes Häuschen erhebt, das nun, je nach dem Wohlstande oder dem Geschmacke des Besitzers, innerlich mit aller Sorgfalt ausgeputzt, oft sogar tapeziert, mit Tisch und Stühlen versehen, mit bezüglichen hebräischen Bibelsprüchen, bunten Lampen und Papierguirlanden, vergoldeten Aepfeln und Nüssen und besonders mit jenen Resten von farbenreichen Herbstblumen geschmückt wird, die mitten in aller Freude so ernsthaft an die schwindende Sommerlust zu mahnen vermögen. Dieses in der That meistens sehr anmuthig aussehende, nach Feld und Wald duftende Häuschen, die stolze Freude der jüdischen Kinder, ist die aus dem alten Palästina stammende Laubhütte, in welche nun die Familie während der bevorstehenden Feiertage alle ihre Mahlzeilen und die damit verbundenen häuslichen Festceremonien verlegen wird.

Das Laubhüttenfest beginnt am fünften Abend nach dem Ausgange des Versöhnungstages und dauert neun volle Tage, von denen die zwei ersten und letzten sogenannte heilige Feste, die fünf mittleren nur Halbfeiertage sind. Wenn namentlich am ersten Abend die Familie nach beendigtem Gottesdienste aus der Synagoge heimkehrt und das noch frische grüne Häuschen von Hellem Kerzen- und Lampenlichte beleuchtet ist, wenn der Hausvater den dreifachen Segen über den Wein, über das Fest und über die Hütte spricht und die Hausgenossenschaft sich in festlicher Kleidung zum Mahle um den Tisch gruppirt, gewährt das an sich einfache Ganze wirklich einen so charakteristischen Anblick glücklichen Friedens und traulicher Heimlichkeit, wie er von Meister Oppenheim, dem berühmten Genremaler des altjüdischen Familienlebens, in unserem Bilde so vortrefflich aufgefaßt und in treuer, wahrhaft künstlerischer Weise wiedergegeben ist. In größeren wie kleineren Städten ist denn auch früher herkömmlich an diesem Abend die ganze christliche Bevölkerung auf den Beinen gewesen, um die Laubhütten zu sehen. Ja, selbst die Kinder königlicher und fürstlicher Familien wurden zu diesem Zwecke mit ihren Hofmeistern in die Häuser vornehmer Juden geschickt, wo ihnen aus goldenen Bechern der Wein kredenzt und von silbernen Schüsseln die Leckerbissen der jüdischen Tafel gereicht wurden. Denn wenn die religiösen Gebräuche verrichtet und die Tischgebete gesprochen sind, pflegt man das Verweilen in der Laubhütte durch weltliche Munterkeit zu würzen, und oft tönt noch in später Stunde Gesang, heiteres Gespräch und Gelächter heller Mädchenstimmen aus den erleuchteten Räumen in die Nacht hinaus.

Außer der Laubhütte kennt dieses Fest noch einen anderen gleichfalls schon im mosaischen Gesetze angeordneten, also ebenso uralten Brauch, den Feststrauß, der aus hohen, am unteren Ende mit Myrthe und Bachweide umwundenen Palmenzweigen besteht und zu dem auch ein sogenannter Paradiesapfel gehört, „Frucht vom Baume Hadar“, wie ihn die Bibel nennt. Dieser Strauß wird, trotz des hohen Preises, noch heute von jedem dem Gesetze ergebenen Juden angeschafft, er gehört am Laubhüttenfeste zu den Erfordernissen eines ehrbaren Hauses und christliche wie jüdische

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 631. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_631.jpg&oldid=- (Version vom 26.12.2022)