Seite:Die Gartenlaube (1868) 646.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

weitgereister Schneider, erklärte ihn für das größte tragische Genie des Jahrhunderts, und der große Kunstmäcen des Stadtviertels, ein „geräucherter Fleischwaarenhändler“, verehrte ihm eine selbstgemachte Wurst und tractirte ihn mit einer „kühlen Blonden“ und dem dazu gehörigen „Gilkakümmel“.

Trotz solcher Anerkennung kehrte Helmerdiug seiner Vaterstadt den Rücken, indem er der bloßen Naturalverpflegung ein festes Engagement mit wirklicher Geldgage vorzog. Zur Erreichung seines Zieles wandte er sich nach Potschappel bei Dresden, wo er von dem dortigen Director Dietrich mit offenen Armen empfangen und der kleinen todesmuthigen Künstlerschaar einverleibt wurde.

Für zwölf Thaler monatlich lieferte er heute einen zärtlichen Liebhaber, morgen einen schwarzen Bösewicht oder Intriguanten; selten oder nie trat er dagegen in komischen Rollen auf, die er damals noch unter seiner Würde hielt. Obgleich Vater Helmerding unter diesen’Verhältnissen dem angehenden Künstler unter die Arme greifen mußte und mancher Thaler als willkommener Zuschuß von Berlin nach Potschappel wanderte, so fehlte es doch häufig am Besten. Aber Helmerding verlor darum nicht den angeborenen Humor und wußte sich zu helfen.

Mit einem Freunde, einem jungen, talentvollen Schauspieler, ertrug er fröhlich und mit dem glücklichen Leichtsinn der Jugend die kleinen Leiden des menschlichen[WS 1] Lebens. Beide waren bei einem Häring und einem Gericht Kartoffeln ausgelassen lustig, und wenn im kalten Winter ihnen das Holz ausgegangen war, wärmten sie die erstarrten Hände – an der Spirituslampe.

Endlich riß dem Freunde die Geduld, so daß er heimlich ausrückte und das undankbare Potschappel bei Nacht und Nebel verließ, wobei er in der Eile einen Stiefel Helmerding’s mit dem seinigen verwechselte. Als dieser am andern Morgen erwachte, sah er sich gezwungen, zu Hause zu bleiben, da der zurückgelassene Stiefel des Freundes ihm trotz aller Flüche und Anstrengungen nicht passen wollte, weil derselbe ihm zu eng war und er selbst kein zweites Paar mehr zu versenden hatte.

Unter diesen Verhältnissen hielt es Helmerding für das Beste, dem Beispiele des flüchtigen Freundes zu folgen und sich ebenfalls im eigentlichen Sinne auf die Strümpfe zu machen. Lange Zeit führte er jetzt jenes wechselvolle Nomadenleben eines wandernden Künstlers, das Holtei in seinen „Vagabunden“ so anschaulich und verführerisch geschildert hat. In dem verhängnißvollen Jahre 1848 spielte Helmerding fast vor den Thoren seiner Vaterstadt, in dem Dorfe Schöneberg bei Berlin, wohin sich die Kunst vor den politischen Stürmen geflüchtet hatte, um nicht zu verhungern. Hier mochte ihm wohl zuerst die Bedeutung der Posse und des höheren Blödsinns aufgegangen sein, der hauptsächlich von dem dortigen Director cultivirt wurde. Der zu jener Zeit noch ziemlich unbekannte Kalisch ließ ebenfalls in Schöneberg die ersten Erzeugnisse seiner komischen Muse mit dem besten Erfolge vor einem bunt gemischten Publicum aufführen. Damals ahnte weder Kalisch noch Helmerding, welche Triumphe sie mitsammen einst feiern sollten. Sie gingen häufig an einander vorüber, ohne sich zu sehen und zu sprechen.

Dagegen machte Helmerding eine andere Bekanntschaft, welche gewiß nicht ohne Einfluß auf seine künstlerische Entwickelung blieb. Die innigste Liebe verband ihn hier mit einer talentvollen, fein gebildeten Schauspielerin, die von ihrem rohen Gatten zwar getrennt, aber nicht geschieden lebte. Alle Bemühungen der armen Frau, ihre unglückliche Ehe zu lösen, waren ohne Erfolg, so daß ihr nichts übrig blieb, als heimlich zu entfliehen, um den thätlichen Mißhandlungen des brutalen Mannes zu entgehen. Helmerding folgte ihr nach Schlesien, wo Beide in Glatz bei dem Director Nachtigall ein Engagement fanden. Bald aber erlag die zarte, leidende Frau der fortwährenden Gemüthsbewegung; ein plötzlicher Blutsturz machte ihrem Leben ein Ende.

Da der Wirth die Leiche der armen Schauspielerin nicht in seinem Hause dulden wollte, so wurde dieselbe in einem benachbarten Holzstall niedergelegt. Dorthin schlich sich der trauernde Helmerding wie ein Dieb in der Nacht, um die Todte noch einmal zu sehen und zu umarmen. Zärtlich küßte er die bleichen, kalten Wangen, während ihm die heißen Thränen über die noch von der letzten Abendvorstellung geschminkten Wangen liefen.

Am nächsten Tage sollte er in einem neuen Stücke auftreten; beim Scheine der mitgebrachten Laterne lernte er die große Rolle zu den Füßen des Sarges, in dem die geliebte Leiche lag. Unwillkürlich schlossen sich vor Schmerz und Ermüdung seine Augen, über das Antlitz der Todten gebeugt war er eingeschlafen. So wurde er am Morgen gefunden, die eine Wange roth geschminkt, die andere von dem frischen Anstrich des Sarges schwarz gefärbt, und an demselben Abend, nachdem er die geliebte Frau begraben, mußte er – Komödie spielen. So lernte der zukünftige berühmte Komiker den tiefen Ernst des Lebens kennen, ohne den er schwerlich ein so ausgezeichneter Humorist geworden wäre. Aber noch war die Zeit der Prüfung nicht beendet, die Schule der Leiden, die keinem wahren Künstler erspart wird, noch nicht geschlossen, Nach manchen Irrfahrten kehrte Helmerding, nach Berlin zurück, wo in Folge des Jahres 1848 sein wohlhabender Vater den größten Theil seines Vermögens verloren hatte, so daß von dieser Seite keine Unterstützung mehr zu hoffen war. Nur um zu leben, nahm Helmerding ein Engagement des Theaterdirectors Kallenbach auf dessen kleiner Gartenbühne vor dem Oranienburger Thore an. Der Scharfblick des praktisch erfahrenen Bühnenleiters erkannte zuerst das vorwiegend komische Talent des jungen Schauspielers, der seitdem sich ausschließlich dem heiteren Genre zuwendete. Kurze Zeit darauf ging Helmerding zu dem Königsstädtischen Theater über, das damals provisorisch in der Charlottenstraße unter dem Director Cerf, dem jetzigen Besitzer des Victoria-Theaters, stand.

Doch auch hier fand sein Talent keine Gelegenheit, sich zu zeigen, da die schon vorhandenen Komiker im Besitz der besten Rollen ihn nicht aufkommen ließen. Helmerding mußte sich längere Zeit mit den unbedeutendsten Episoden begnügen, und blieb so gänzlich unbeachtet. Die geringe Gage reichte kaum hin, ihn kümmerlich durchzubringen, und es gab Tage, wo er ohne Abendbrod zu Bette ging.

In dieser Zeit der Noth, wo ihn nicht selten der Hunger quälte, erblickte er eines Tages auf der Hausflur einen Korb, auf dessen Grund drei Silbergroschen lagen. Wahrscheinlich hatte ein Dienstmädchen des Nachbars den Korb stehen lassen. Der Fund schien Helmerding ein wahrer Schatz, da er selbst nicht einen Pfennig besaß und noch nicht gefrühstückt hatte. Trotzdem widerstand er der Versuchung, sich die drei Silbergroschen anzueignen, obgleich er dies unbemerkt thun konnte. Mit leerem Magen und betrübtem Herzen schlich er zur Probe nach dem Theater. Doch die Tugend sollte ihren Lohn endlich finden. Welch ein Glück! Zu seinen Füßen sieht er auf der Straße etwas Glänzendes blinken. Er bückt sich danach und findet – einen Silbergroschen, für den er sich jetzt mit gutem Gewissen Semmel kaufte.

Der Silbergroschen wurde für ihn zum Talisman und bezeichnete gleichsam die günstige Wendung in seinem Geschick. Gesättigt trat er auf die Bühne, wo ihm eine neue Ueberraschung erwartete. Ueber Nacht war der Darsteller einer Hauptrolle in der zu jener Zeit neuen und ununterbrochen gegebenen Posse „Münchhausen“ von Kalisch erkrankt. Keiner der anwesenden Schauspieler getraute sich, von dem verlegenen Director aufgefordert, die bedeutende Partie bis zum Abende zu lernen. Da meldet sich der bisher vernachlässigte Helmerding, der die Rolle durch wiederholtes Anhören fast auswendig wußte, zur sofortigen Uebernahme. Nach einiger Ueberlegung wird sein Anerbieten dankbar angenommen und noch an demselben Abend erobert er durch seine originelle Darstellung des Charakters, aus dem sich später „der gebildete Hausknecht“ entwickelte, die Gunst des Publicums und eine hervorragende Stellung in der Theaterwelt.

Der Neid der Collegen bewies ihm am besten, wie sehr er gefallen hatte. Bei einem Diner, wozu er mit einem damals über die Gebühr gepriesenen Komiker von seinem Director geladen wurde, sagte der letztere in Anerkennung dieser Leistung: „Auf die Rolle des ‚Knetschke‘ können Sie reisen.“ – „Aber nicht weit,“ setzte der boshafte College, der jetzt längst vergessen ist, verächtlich hinzu.

Helmerding kümmerte sich nicht um den Neid und befestigte sich immer mehr durch sein Talent und seinen unermüdlichen Fleiß in seiner mit Mühe erworbenen Stellung, indem er täglich Fortschritte machte. Nach dem Aufhören des Cerf’schen Theaters in der Charlottenstraße nahm er ein vortheilhaftes Engagement in Köln an, wo er seine jetzige Frau kennen lernte, mit der er in der glücklichsten Ehe lebt. Später war er wieder in Berlin kurze Zeit an der Kroll’schen Bühne thätig, von der er nach Posen zu dem den Lesern der „Gartenlaube“ wohlbekannten Director

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: menschlichens
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 646. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_646.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)