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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

und geistige Selbstthätigkeit waren ihm Ziel des akademischen Studiums. Seine Erläuterungen nahmen häufig die Form der Frage und Antwort an. Der Zuhörer antwortete zwar nicht laut, aber er antwortete im Stillen und er hörte die Antworten des Meisters, die jener auf seine Fragen gab. Er ließ im Hörer die Fragen selbst auffinden, auf deren Beantwortung es ankam, und erfüllte ihn mit der Begierde diese Fragen zu lösen. Und doch sagte Schleiermacher selbst scherzweise, daß die Studenten nichts bei ihm lernen könnten! Er war allerdings kein Münzmeister, der Jeden mit einer Anzahl von ausgeprägten Geldsorten versah zur Wegzehrung für den nächsten Bedarf, aber die Zutageförderung edler Metalle aus dem Schachte des Geistes lernte man bei ihm und die Münzkunst selbst. Wie wenig im Ganzen seine Lehrkunst jetzt auf unsern Universitäten verstanden und gehandhabt wird, weiß Jeder, der die „positiven“ Einflüsse auf den meisten derselben kennt.

Wie berauscht war ich aus dem ersten Colleg gegangen, der Mann hatte mich ganz gefangen genommen. Bald machte ich meine Aufwartung in Schleiermacher’s Wohnung. Der Herr Professor arbeitete in seinem Studirzimmer, ich wurde gemeldet und erwartete ihn klopfenden Herzens.

Bekannte, die Schleiermacher bereits besucht, hatten ihn beim ersten Zusammentreffen etwas kühl zurückhaltend gefunden. Er verhielt sich allerdings gewöhnlich scheinbar kalt, d. h. zuschauend, prüfend, indem er dem Gaste ruhig gestattete, sich ausführlich auszusprechen, und dabei ruhte sein Blick fest durchschauend, fast körperlich fühlbar auf dem Fremden. Das mochte unter Umständen etwas beengend sein. Nicht nur sein Naturell, auch die Verhältnisse veranlaßten diese Eigenthümlichkeit seines Benehmens. Schleiermacher war sehr thätig und in der Ausbeutung seiner Zeit äußerst sorgsam; so setzte er sich an den Arbeitstisch, auch wenn ihm nur fünf bis zehn Minuten freie Zeit zum Arbeiten blieben. Wurde er nun, wie so oft geschah, von seinen gelehrten Arbeiten weg zu Besuchen oder Geschäften gerufen, so hatten seine Züge allerdings anfangs einen etwas starren Ausdruck, der aber bald wich; in seinem Kopfe processirten eben noch Gedanken, die einer ganz andern Welt angehörten als der, der er sich im Augenblick widmen sollte.

Mich nahm er freundlichst auf und zeigte in seiner gewinnenden Unterhaltung ein merkwürdiges Verständniß für jugendliche Interessen; hatte er doch selbst noch ein jugendliches Herz neben seiner hohen Weisheit, und „ein alter Kopf und ein junges Herz“ haben in ihrer seltenen Vereinigung immer eine empfängliche, strebsame Jugend entzückt.

Er lud mich auf den folgenden Sonnabend Abend ein. Am Sonnabend jeder Woche hielt nämlich Schleiermacher offenes Haus und mochte es gern, wenn sich da auch die akademische Jugend unter seinen Gästen einfand. Als Hallescher Professor hatte er sogar einen Empfangsabend nur für Studenten bestimmt. „Ich weiß nicht,“ sagte er, „wer mehr dabei gewinnt, sie oder ich; ihnen wird vielleicht manches Dunkle durch diese freie Unterhaltung aufgehellt und sie gewinnen an Vertrauen. Ich aber gewinne dadurch offenbar einen sicheren Tact für meine Vorträge und weiß genauer, wie ich mir die besseren unter meinen Zuhörern zu denken habe, welches ihre Fähigkeiten und welches ihre Bedürfnisse sind. Dadurch gewinne ich auch an Muth, und so erweitert sich mir mit jedem Jahr die Bahn, die ich noch zu durchlaufen habe.“

Schleiermacher war eine durchaus gesellige Natur, trotz seiner „Monologe“ so wenig monologisch, daß er es als seine Ueberzeugung aussprach: „Wie abgerissen und elend würde eine Existenz sein, wenn man nicht durch, in und mit besseren Menschen leben könnte!“ und sich selbst eine „mehr sprechende, als schreibende Natur“ nannte. So hat er mannigfaltige Freundschaften gepflegt, so ließ er auch oft und gern die verschiedenartigen Anregungen einer bunten Gesellschaft auf sich einwirken. Und wie sprudelte es da von seinen Lippen, wie glänzten die lebhaften Augen, wie energisch gesticulirten die kleinen Hände durch die Luft, wenn er unter den Bekannten saß!

Schleiermacher war ein ausgezeichneter Gesellschafter. Sichtlich war sein Behagen, sich in Gesellschaft als Mensch unter Menschen wohl fühlen zu können, und von diesem Wohlgefühl ging etwas über auf Jeden, der ihm nahe kam. Er halte den „Tact des Herzens“, das sichere Gefühl für das, was dem Andern wohlthun oder ihn verletzen könnte. Mit Virtuosität ging er auf die fremdartigsten, ihm ganz fernliegenden Verhältnisse ein, er hatte Sinn für die leisesten persönlichen Beziehungen, er fand für Alles neue Gesichtspunkte und wußte sich und seine Umgebung für das Unscheinbarste zu interessiren, er sah mit seinem Meister Spinoza „im Alltäglichen das Höchste“.

Wenn Archenholz vom Philosophen fordert, im „Gewühl des Marktes und unter Geschrei der Krämer philosophiren zu können,“ so war Schleiermacher auch in dieser Beziehung Philosoph. In lebhaftester Gesellschaft trat er manchmal plötzlich seitwärts und stand still versunken oft zehn Minuten lang am Ofen, die beiden Vorderfinger an das linke Auge gelegt, wie er bei tiefem Nachdenken immer that. Man kannte diese Momente und ließ ihn ruhig gewähren, wußte man doch, daß, was die Gesellschaft in diesen Augenblicken des Versunkenseins von seiner Unterhaltung entbehrte, sie in der Predigt des nächsten Sonntages reichlich wiedererstattet erhalten würde. Schleiermacher fing nämlich schon am Montag an, die Predigt des nächsten Sonntages zu überdenken und im Kopfe auszuarbeiten – seine schriftlichen Notizen dazu waren ganz kurz – und dies geschah ebensowohl in der Einsamkeit des Studirzimmers, als im Geplauder einer Abendgesellschaft. Wurden vielleicht seine Predigten „von der Gesellschaft“ so gut verstanden, weil sie zum Theil in der Gesellschaft entstanden waren?

Seine Predigten! Sie waren so einzig, wie seine akademischen Vorträge. Vierundzwanzig Jahr lang zog er Tausende und aber Tausende mit seinem wunderbaren Worte in die früher oft leergebliebenen Räume der Dreifaltigkeitskirche. Wer Schleiermacher nicht predigen hörte, wird in den gedruckten Predigten nur eine schwache Ahnung ihrer außerordentlichen Wirkung haben. So wie Schleiermacher hat seit seinem Tode kein Prediger wieder in Berlin gepredigt und Keinem ist es gelungen, ein Publicum zu sammeln, wie er es vermochte. Leute aller Stände hat er zu seinen Füßen gefesselt, aus „gebildeten Verächtern der Religion“ fleißige Kirchgänger gemacht – ohne Eifern über Weltlust und schlechten Kirchenbesuch!

Allsonntäglich kamen sie gezogen, die Schaaren der Männer und Frauen, Jedermann sucht den gewohnten Sitz, grüßt den gewohnten Nachbar, festlich stille Erwartung liegt auf der dichten Versammlung. Noch ehe der Gesang schweigt, steigt er empor zur Kanzel, der kleine Mann, der aussprechen soll, was die vielgestaltige Menge da unten bewegt, dessen eigentlicher „Beruf es ist,“ wie er selbst sagt, „klarer darzustellen, was in allen ordentlichen Menschen schon ist, und es ihnen zum Bewußtsein zu bringen.“

Sein Auge schweift ruhig über die Versammlung, ein feines, freundliches Lächeln zuckt um seine Lippen, – er findet seine Getreuen gegenwärtig. Wie ein Kirchenvater steht er droben auf der Kanzel und mit wahrhaft „biblischer Zunge“ verkündet er seine quellenden Lebensworte. Es ist sehr richtig, was einer seiner Zuhörer ausgesprochen hat: „Wer in die persönliche Nähe des Mannes gerieth und die Gewalt seiner Beredsamkeit über sich ergehen ließ, der wurde durch ihn auf wunderbare Weise zum Christenthum bekehrt oder in ihm befestigt.“

Und allerdings, es lag ein seltener Zauber in seinen Worten. Nie erschien er auf der Kanzel als der Senator, der die Offenbarung proclamirt, immer war er der Tribun des Volkes, der in dessen Namen sich erhebt, um das geheimnißvolle Buch des Lebens zu entsiegeln. Schmetternd klang seine Stimme, wenn er sein Veto ausrief über alle Gesetze der Welt, wenn sie von Außen kamen oder die Ueberlieferung sie brachte. Der sinnende, stillberechnende Blick seines Auges leuchtete dann wie ein zündender Blitz, die kleine Gestalt des Mannes schien aus sich selbst herauszuwachsen, wenn er sich über den Rand der Kanzel bog, um einen Jeden an’s Herz zu klopfen und auch im felsenfesten Unglauben die Quelle des Lebens zu entriegeln.

Mächtig zündend habe ich Schleiermacher hundertfach sprechen hören, doch nie so unvergeßlich schön und innig, als am Grabe seines neunjährigen Sohnes Nathanael. Wie Abraham hatte er lange gehofft auf einen Sohn, und diesen einen, den er unendlich lieb hatte, nahm ihm der Herr wieder.

Wie hatte er jubelnd die Geburt dieses Sohnes seinen Freunden gemeldet, in seiner frommen Freude in diesem kostbaren Geschenk „nur eine neue Aufforderung gefunden, sich selbst stets zu veredeln“; wie hatte er sorgsam seine Erziehung geleitet, wie reich war nun sein Familienleben geworden, als es neben Frau und

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