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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

unserem Erstaunen sahen, wie viel Intelligenz und Fleiß dieses Völkchen besitzt. Sie verfertigen ihre Jagdflinten, ihre undurchdringlichen hohen Wasserstiefeln von Seehundsleder, ihre Kleider etc. selbst. Sie sind ferner Zimmerleute, Tischler, Bäcker, Weber, Klempner, Schmiede etc., also auch, was die Handwerke betrifft, unabhängige, ganz selbstständige Leute. Aber sie wissen dies auch und scheinen es gern auszusprechen. In unserem alten treuherzigen Führer entdeckte ich sogar einen Renommisten, wie man ihn ausgebackener nicht in der civilisirtesten Stadt findet. „Von wem,“ fragte ich ihn, „haben Sie aber alle diese Fähigkeiten gelernt?“

„Von Gott,“ antwortete er mit mehr Selbstbewußtsein, als mir Angesichts der Bescheidenheit, welche im Uebrigen die Einwohner zeigten, nothwendig erschien. Schließlich nahm er eine feierliche, vielverheißende Miene an, die mich höchst erwartungsvoll stimmte, und sagte nicht ohne Pathos: „I kann ook sriewen“ (ich kann auch schreiben).

Eine Eigenthümlichkeit, die unsern Respect vor dem alten Tausendkünstler noch erhöhte, war das häufige Begleiten seiner Antworten mit recht treffend angewandten Citaten aus der Bibel. Wir hatten es mit einem Gelehrten der Insel zu thun, und er wußte, daß er uns durch eine solche Summe von Fähigkeiten imponiren würde. Von ihm, der früher selbst lange Jahre Lehrer und Cantor gewesen war, erfuhren wir auch, daß der Cantor die Kinder im Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichtet, daß aber die wirkliche Erwerbung dieser Kenntnisse für den einzelnen Runoer Sprößling nicht obligatorisch sei. Er meinte, nicht jeder Mensch habe Kopf und Lust, sich „gedruckte oder geschriebene Kenntnisse“ zu erwerben, aber arbeiten könne ein Jeder. Was zum Seehundsfang oder zur Arbeit auf der Insel gehöre, lerne jeder Runoer, und wenn der Knabe sechszehn Jahre alt sei, dann treffe er mit der Flinte auf ziemlich weite Entfernung einen Gegenstand, der wie ein Kopeken groß sei, und das sei dann der Beweis, daß er mit zur Seehundsjagd fahren könne. Die Erziehung und auch einen Theil des Unterrichts leiten die Mütter. Bei unserm Wege durch’s Dorf sahen wir in der Ferne Kornfelder. Der Alte sagte, daß auch Kartoffeln und Rüben auf der Insel gut gedeihen. Ihre Viehzucht beschränkt sich auf Kühe, Schweine, Gänse und Hühner. Bei Besichtigung der verschiedenen Häuser, welche ich auf dem Gange durch’s Dorf zu sehen bekam, bemerkte ich, daß sie alle ziemlich egal gebaut und eingerichtet sind. Jede Wohnung besteht aus einem großen rußig schwarzen Vorraum, der zum Räuchern der Fische bestimmt ist und dem jungen Volke bei schlechter Witterung und im Winter zum Tanzen dient, dann der großen Wohnstube, deren Wände mit Betten besetzt sind, und einem Nebenzimmer, welches als Werkstätte und Ablegekammer benutzt wird. Ihre Betten sehen sauber aus und stechen vortheilhaft gegen das Düster der niedrigen Stuben ab, welche, weil die Häuser durchgängig ohne Schornstein gebaut sind, oft durch ihre kleinen Fenster einen großen Theil des Rauches hinauslassen müssen, der seinen Weg in’s Freie eigentlich durch die Hausthür nehmen sollte.

In diesen unwohnlichen niedrigen und düstern Räumen sitzen die Frauen während der einsamen Wintertage am Spinnrocken und am Webestuhl, während die Männer, ganze Tagereisen weit von ihnen entfernt, der schrecklichsten Gefahr des oft so tückischen winterlichen Meeres preisgegeben sind. Bei dem matt und unheimlich roth flackernden Schein einer Lampe, wie sie das erste Menschenpaar nicht primitiver und unvollkommener haben konnte, nämlich eines dünnen Kienholzspahnes, nähen die schlanken Mädchen Kleider für ihre Väter und Brüder oder arbeiten, ohne noch zu wissen, wer ihr künftiger Ehegenosse sein wird, an ihrer Aussteuer, mit deren Anfertigung die Runoerinnen schon im frühesten Kindesalter beginnen. Dann kommt der Tag, an welchem sie die Männer von ihrer Fahrt zurückerwarten. Klopfenden Herzens eilen die Frauen, Jungfrauen und Knaben mit geladenen Flinten an’s Ufer, um mit spähenden Augen einer Wiederkehr entgegenzuharren, die oft noch fraglicher ist, als die aus einem Kriege. Doch plötzlich tauchen am Horizont Punkte auf, die, näher und näher kommend, sich zu einer Flottille von kleinen Böten vergrößern. Sehnsucht führt die Steuer und Sehnsucht schlägt die Ruder. Darum kommen sie auch so rasch der einsamen Insel näher, und jetzt erdröhnen am Ufer aus der Menge Flinten unzählige Freudenschüsse; doch die Herzen der Runoerinnen beruhigen sich erst, wenn sie sehen, daß die Männer und Jünglinge, die zur Seehundsjagd auszogen, auch allesammt zurückkehren und gute Beute mitgebracht haben; denn oft fehlt dieser Jüngling oder jener Mann, der den Gefahren des Unternehmens zum Opfer gefallen ist. Ja, der alte Runoer, der mir dieses mittheilte, erzählte, daß vor vielen, vielen Jahren einmal eine ganze solche Jagdexpedition ausgeblieben und die Bewohnerzahl der Insel dadurch sehr bedeutend decimirt worden sei.

Jedenfalls haben die Runoer durch die Gefahr ihrer Arbeit ein weit größeres Wohlgefühl des Lebens und genießen ihre Existenz viel mehr, als den meisten Bauern des Festlandes möglich ist. Ein Dutzend Mal jährlich seine Existenz dem gähnenden Todesschlunde des mit Eisbergen bedeckten Meeres abzuringen, und dann eben so oft mit schwerer Beute in den holden Frieden der Heimath und in das milde Antlitz der Treue und Liebe hineinzuschauen – das ist ohne Frage Glück, um so größeres Glück, als es sich so oft erneuert und die Menschen so frisch, so klar, so kräftig erhält.

Als wir von unserer Wanderung durch’s Dorf nach dem improvisirten Tanzplatz zurückkehrten, drehten sich die Paare noch immer in der Runde. Doch der Capitain mahnte zur Heimkehr. Wir waren vier Stunden auf der Insel gewesen und zogen jetzt, von den Bewohnern begleitet, zurück zum Ufer. Eine Menge junger Runoerinnen hatten auf diesem Wege ihren städtischen Tänzern den Arm gereicht, um so jene so plötzlich erfolgte trauliche Verbindung verschiedener Culturepochen bis zum letzten Augenblicke festzuhalten. Nachdem eine große Anzahl runoe’scher Frauen und Mädchen unser Schiff neugierig besichtigt, trat dasselbe die Rückfahrt nach Riga an, wo wir Abends elf ein halb Uhr anlangten. Die fast spiegelglatte See, der klare Himmel und eine durch die mehr als befriedigten Reiseerwartungen erzeugte überaus gemüthvolle Stimmung unter den Fahrgästen waren die prächtigen Requisiten zu einem freundlichen Abschlusse der kleinen so interessanten Seereise.




Die drei preußischen Wehs.

Die großen Ereignisse, durch welche in diesem Augenblick Spanien die Aufmerksamkeit der Welt auf sich zieht, decken das Bild einer Günstlingswirthschaft auf, die allerdings hinsichtlich ihrer Versündigung gegen Staats- und Volkswohl ihres Gleichen sucht. Wir kennen indeß kein Land, dessen Geschichte sich rühmen könnte, ganz frei von ähnlichen Bildern zu sein. Wenn wir nun gerade in dieser Beziehung Preußen durchaus nicht mit Spanien, wo die Weiberherrschaft das Staatselend herbeiführte, in gleiche Linie stellen dürfen, so ist dennoch auch ihm das Unglück nicht erspart worden, durch freche Abenteurer und unfähige Günstlinge seiner Fürsten beherrscht und dem Verderben nahe gebracht zu werden. Schon der Vorgänger des großen Kurfürsten ließ sich von seinem Minister, dem Grafen Schwarzenberg, leiten, der notorisch im Solde Oesterreichs stand und eine verrätherische Rolle spielte. Diese Günstlings-Wirthschaft erreichte jedoch ihren Höhepunkt unter dem ersten König Friedrich, dessen Minister, der berüchtigte Kolbe von Wartenberg, im Verein mit seinen ergebenen Creaturen, den Grafen Wittgenstein und Wartensleben, ein verrufenes Kleeblatt bildete, welches der damalige Volkswitz mit dem Namen der „drei Wehs“ belegte, da der Anfangsbuchstabe dieser Camarilla von einem „W“ gebildet wurde.

Johann Casimir von Kolbe stammte aus einer heruntergekommenen pfälzischen Familie von Adel und trat noch sehr jung in die Dienste der Pfalzgräfin von Simmern, einer geborenen Prinzessin von Oranien. Bei einem Besuche, den dieselbe ihrer Schwester, der Gemahlin des großen Kurfürsten, abstattete, kam der gewandte Höfling nach Berlin, wo er sich durch sein einschmeichelndes Wesen zu empfehlen wußte. Ein Anerbieten, in die Dienste Brandenburgs zu treten, konnte er damals nicht annehmen, da er mit seiner galanten Gebieterin in einem zärtlichen


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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 665. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_665.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)