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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Lande, hochgeehrt ist die Schule, welche Einige durchgebracht hat, Beförderung und Zulage erwarten den glücklichen Einpauker und schaarenweise strömen Zöglinge dem Präceptor zu, der eine besondere Fähigkeit besitzt, das „Argumentle“ einzubläuen.

Die Glücklichen beziehen nun eine der Anstalten Maulbronn, Urach, Blaubeuern oder Schönthal, dort bleiben sie vier Jahre. Der Unterricht ist ausgezeichnet, vorzüglich in alten Sprachen, weniger in Realien, griechische und römische Autoren werden eifrig übersetzt, zum Theil metrisch übertragen, ja die jungen Leute machen selbst Verse in den alten Sprachen, mitunter geht es sogar so weit, daß die Zöglinge, wie ein früherer Stiftler versichert, Schiller’s Kampf mit dem Drachen ins Hebräische übersetzen mußten, Ausflüge in die herrliche Umgegend sind nicht selten, schwärmerische Jugendfreundschaften werden geschlossen; das strenge Verbot gegen Rauchen und Wirthshausbesuch weckt die jugendliche Erfindungskraft, das Verbot hier und da zu übertreten, und manch dichterischer Jüngling findet unter den Jungfrauen des Städtleins ein empfängliches Herz für seine ersten lyrischen Erzeugnisse, nicht selten auch eine Braut. Schnell verrinnen die vier Jahre, dann geht’s mit Sang und Klang zum Städtchen hinaus und nur zu oft heißt’s:

Jetzt komm ich, ach! an Liebchens Haus,
O Kind, schau noch einmal heraus!

Aber schnell vergessen ist das Vorrecht der glücklichen Jugend; nach nochmaligem Examen nimmt Tübingen den jungen Theologen auf, dieselbe Lebensordnung, nur mit mehr Freiheit, dauert weitere vier Jahre, und dann ist der Mann fertig und beginnt seine Laufbahn als Vicar.

Nehmen wir zu solcher Erziehung die Eindrücke der umgebenden Natur, ein Land reich an Naturschönheiten, das düstere Wäldermeer des Schwarzwaldes, das reizende Neckarthal, die kühn gezogene, blaue Albkette mit ihren Felsenhäuptern, Hohenstaufen, Teck, Neuffen, Urach, Rechberg, das schwäbische Meer, über welchem die Schneehäupter der Alpen herüberblicken, so giebt das ein Bild, zwar nicht so wild und gewaltig als die tief gefurchten Thäler des badischen Schwarzwaldes, nicht so erhaben wie die großartige Alpenwelt, aber sanft und idyllisch zu stillem Sinnen und Träumen einladend. Und wie reich ist die Geschichte dieses Bodens, wie wirkt sie auf die Einbildungskraft! Hier entstammten die Hohenstaufen, auf diesen Feldern schlugen sie sich mit ihren unversöhnlichen Gegnern, den Welfen, hier erschallte der Schlachtruf: „Hie Welf, hie Waiblingen!

Eduard Mörike.


Und auch in der württembergischen Landesgeschichte, welche gewaltigen Naturen! Der alte Greiner und sein Sohn Ulerich, der gerne war „wo’s eisern klang“, der edle Eberhard im Bart, die dämonische Gestalt des wilden Ulerich, der im Schönbuch wegen der schönen „Thumbia“ den Hutten erschlug; Herzog Alexander mit dem Juden Süß, der ‚Karl Herzog‘, der Held zahlloser Anekdoten und dazu der blühende Kranz von Reichsstädten, das feste Ulm, das gewerbsame Reutlingen, Eßlingen mit seinen schönen Mädchen, deren eine sogar das Herz des wilden Melac rührte, das reizend gelegene Hall mit der Limburg und der Geiersburg, in deren Nähe der Achill des Bauernkriegs Florian Geier fiel, das kleine Weil, wo der große Kepler das Licht der Welt erblickte.

Diese äußeren Eindrücke und Erinnerungen und die strenge Kloster- und Stiftserziehung (dies der Name des höhern Klosters zu Tübingen) giebt den jungen Leuten gründliche Kenntnisse und poetischen Gemüthern einen feinen Formsinn durch die tiefere Einsicht in die unerreichten Muster des classischen Alterthums. Aber trotzige Naturen sträuben sich gegen den Zwang und geben sich, wenn losgelassen, wilden Ausschweifungen hin, wie der geniale, aber unglückliche Waiblinger; zarte empfindsame Naturen dagegen, wie ein Hölderlin, bilden sich eine poetische Welt, werden, wenn sie ins Leben hinaustreten, von der rauhen Wirklichkeit abgestoßen und gehen an diesem Zwiespalt zu Grunde. Doch die Extreme sind selten, alle Stiftler aber behalten, wie der berühmte Aesthetiker Vischer schildert, ein gewisses „Geschmäckle“, d. h. ein linkisches verlegenes Wesen, namentlich dem schönen Geschlecht gegenüber, eine gewisse Unbeholfenheit klebt ihnen durch das ganze Leben an, entweder sind sie, wie derselbe feine Beobachter sagt, dumm blöde oder nach freundlicher Begegnung werden sie täppisch zutraulich, so daß sie etwa eine hohe Frau bitten, ihnen einen abgerissenen Knopf anzunähen. Manche bilden sich sogar auf dieses Geschmäckle etwas ein, sind stolz auf ihre Unbeholfenheit und halten sie für das sicherste Kennzeichen tiefer Gelehrsamkeit und hoher Genialität.

In solchem Lande, von solchen geschichtlichen Erinnerungen umgeben, in solcher strengen Zucht wuchs Eduard Mörike heran, und seine Persönlichkeit, sowie der Charakter seiner Schriften wird uns verständlicher, wenn wir den Boden kennen, aus dem sie herausgewachsen sind.

Eduard Mörike ist im Jahr 1805 in Ludwigsburg geboren, dem württembergischen Potsdam, einer Stadt, die auch Vischer und David Strauß zu den Ihrigen zählt. Aber nur wenige Jahre verlebte der Dichter in dieser langweilig öden Soldatenstadt, nach dem frühen Tode seines Vaters, eines angesehenen Arztes, siedelte die Mutter nach Stuttgart über. Die dortige reizende Umgebung gab dem erwachenden Natursinn des Knaben reichliche Nahrung, und von seiner Wohnung in der Büchsenstraße, vom lärmenden Mittelpunkt des Verkehrs mehr noch als jetzt entfernt, durchstreifte er die umliegendenden Höhen und Wälder. Wie manche begabte Naturen fand auch er wenig Geschmack an den Anfangsgründen der alten Sprachen, und mit Widerstreben zwang er, wie Schwab sagt, ‚mit dem Kiele der Römersprache Herbigkeit‘. Und doch bestand er das schwere Landexamen, denn ein angeborener feiner Sprachsinn half ihm über alle Schwierigkeiten der Uebersetzung weg. Im vierzehnten Jahre tritt Mörike in Urach ein und da eröffnete sich dem angehenden Jüngling eine neue Welt; durch

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 709. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_709.jpg&oldid=- (Version vom 11.11.2021)