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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Aerzte verfolgte die Apostel der Chirurgie von Norcia, und oft genug mußten sie bei Nacht und Nebel vor der pedantischen Facultät flüchten. Germain Colot, der in günstigen Vermögensverhältnissen lebte, kümmerte sich nicht viel um die blinden Eiferer gegen eine Kunst, deren Jünger ihm ehrwürdig schienen, von welcher er schon so viel gehört hatte, die seinen Geist, sein Nachdenken mächtig erregte. Er hatte in vergilbten Schriften gelesen, wie die Alten zu Rom die gefährliche Operation betrieben, daß schon in grauer Vorzeit ein Privilegium darauf bestanden. Celsus, Meges und Paulus der Arzt gaben ihr Verfahren an, dessen sich auch viele Aerzte der Epoche Colot’s bedienten. Aber er hatte auch gefunden und durch sich selbst die Erfahrung gemacht, wie wenig ausreichend jene Methode sei, wie oft der Leidende, in den meisten Fällen sogar, ein Opfer der grausamen Zerfleischung wurde. Die Norcianer allein besaßen das Richtige, ihre Werkzeuge, ihre Kunstgriffe waren allein vermögend, das Uebel zu beseitigen und den Kranken zu erhalten. Wenn er hinter das Geheimniß kam, die Art jener Operation sich zu eigen machte – welch’ ein Glück für ihn! welch’ ein Ruhm! welch’ ein Segen für die Menschheit!

Da pochte es in stürmischer Nacht an das Thor seines Hauses. Es ist ein flüchtender, fahrender Arzt. Unwissende Mönche haben seine Kunst für Teufelswerk erklärt, neidische Aerzte haben die’ verbrieften Rechte emporgehalten, nach denen kein Anderer als sie, die mit der Robe Bekleideten, das Leben eines Menschen retten dürfe. Von dem Schmerzenslager eines in Qualen sich Krümmenden, der jammernd und winselnd die Arme nach dem Erlöser ausstreckt, hat das starre, vermoderte Recht der Stubengelehrten denselben hinweggescheucht, ihn mit harter Strafe bedroht. Er flüchtet in das Haus Germain Colot’s, den man als einen Freund der Verfolgten schildert.

Germain verschloß seine Thür dem Geächteten nicht. Er bereitete ihm ein Lager und bei dem Nachtmahle entdeckte der Flüchtling seinem Schützer: daß er ein Mitglied der Genossenschaft von Norcia sei, daß er eine Steinoperation vollenden gewollt und vertrieben worden. Germain Colot horchte auf; er hatte das wichtige Geheimniß in seiner Nähe, es mußte um jeden Preis sein eigen werden. Der Norcianer fand den besten Schutz bei Colot, dessen große Popularität ernstliche Maßregeln gegen den fahrenden Arzt verhinderte. Der Schützling war nicht undankbar. Er hatte den glühenden Wunsch Germain’s vernommen. –

Eine Zeit lang waren der Arzt und sein Schützling für Niemand sichtbar. Die Hausgenossen Colot’s deuteten verstohlen auf die verschlossene Thür seines Arbeitszimmers, hinter welcher er sich mit dem Norcianer befand. Man trug ihnen Speise und Trank auf die Schwelle, sah noch spät in der Nacht die Fenster erleuchtet, hörte feilen und hämmern. Endlich am vierten Morgen, noch ehe die Sonne heraufstieg, nahm der Norcianer Abschied von Colot und zog auf einem stattlichen Pferde, die Taschen mit Geld gefüllt, aus der Stadt.

Germain aber stand vor dem Secirtische seines Gemaches und blickte triumphirend, mit funkelnden Augen auf eine kleine Cassette, welche einen Theil seines gewonnenen Geheimnisses barg; der Norcianer hatte dem Arzte das Verfahren erklärt, dessen er und seine Landsleute sich bei der Operation bedienten.

Germain Colot war in großer Aufregung, denn obwohl er nunmehr in den Besitz des wichtigen Geheimnisses gelangt und über die Anwendung ganz einig mit sich war, fehlte doch die Hauptsache, die Gelegenheit, eine so schwierige Heilung durch das Messer praktisch zu vollführen. Wer sollte sich ihm anvertrauen? Die Steinkranken litten häufig eher an den Schmerzen, als einer so fürchterlichen Operation sich auszusetzen; außerdem standen die heimischen Aerzte gar nicht in dem Rufe, gerade diese Uebel durch ihre Hand vertilgen zu können, und erklärte Colot sein Verfahren, so besaß er es nicht mehr allein, der Werth des Geheimnisses ging verloren; auch fand sich in der Gegend von Juvisi, wo Colot seine ärztliche Praxis betrieb, kein Steinkranker um diese Zeit; wenn er zu lange zögerte, kam ihm vielleicht Jemand zuvor, denn wer bürgte dafür, daß der Norcianer sein Geheimniß nicht zum zweiten Male verkaufte?

Der Arzt spähte wie ein Geier umher, der Beute sucht – umsonst. Der Herbst kam heran, die Winterstürme begannen zu wehen und Germain Colot hatte noch immer keine Gelegenheit gefunden, seine Kunst bei dem neuen Verfahren zeigen zu können.

Der Arzt begab sich eines Tages in trüber Stimmung nach Paris, um daselbst Einkäufe für seine Hausapotheke zu machen.

Die feuchten Nebel eines Novembermorgens begannen ein wenig zu weichen, als Colot auf seinem Klepper von der Straße, welche nach Charenton führte, abbiegend durch das Thor St. Antoine ritt. Die schwarzen Steinmassen der Bastille ragten aus den sie umfluthenden Dunstwolken hervor, ein Gewirre von Stimmen, Menschen und Thieren angehörend, scholl von dem Bastilleplatze herüber, zahlreiche Marktkarren, Treiber, Krämer und Bettler umringten den Reiter. Als Colot bei dem Palais Tournelles angekommen war, bemerkte er plötzlich, daß der ganze Menschenknäuel sich nach einer gewissen Richtung hin wälzte. Es ertönten die Rufe: „Da bringen sie ihn!“ „Sie haben ihn!“ „Armer Teufel!“ u. s. w. Colot lenkte sein Pferd nach dem Orte, wo sich die Massen zusammenballten, und erblickte den Gegenstand, welchem die Menge eine so besondere Aufmerksamkeit zollte. Es war ein Mann etwa in dem Alter von fünfundvierzig Jahren, der, auf einem Esel rückwärts sitzend, festgebunden und geknebelt war. Sein zerfetzter Anzug ließ eine Beschäftigung oder ein Leben im Walde vermuthen, denn die grüne Friesjacke war mit vielen kleinen Rehkronen und Schweinshaaren verziert. Bart und Haar, von der Anstrengung, der Flucht und dem Transporte verwirrt, umgaben Kopf und Gesicht wie ein Büschel aus Gras und Aesten zusammengesetzt.

Colot erfuhr, daß der arme Teufel ein Wilddieb aus Meudon sei, der von den Jägern nach vergeblichem Suchen endlich ergriffen, geknebelt ward, und nun zum Gefängniß geschleppt wurde.

Der Arzt zuckte mit den Achseln und warf noch einen Blick auf den Unglücklichen, der nach den grausamen Gesetzen jener Zeit eine fürchterliche Todesstrafe erdulden mußte. Glücklich, wenn er mit einem Hiebe durch den Henker vom Leben zum Tode befördert wurde, und nicht, auf einen Hirsch geschmiedet oder mit Eisen an den Stamm eines Baumes gefesselt, sein elendes Leben in langer Qual verhauchen mußte.

Der Arzt besorgte seine verschiedenen Geschäfte und kam endlich zu dem Apotheker in der Straße Saint-Jacques, wo er sein Pferd eingestellt hatte. Dieser Apotheker wohnte in der Gegend des kleinen Châtelet, welches zu jener Zeit das Hauptgefängniß von Paris war. Als der Doctor, noch damit beschäftigt, seine Einkäufe in den Mantelsack zu packen, in den Laden des Apothekers blickte, sah er einen Mann eintreten, der auf seinem rothen Wamms das Wappen der Stadt Paris, das Schiff, in weißer Seide gestickt, trug. Es war einer der Stadtschergen oder Häscher.

„Hollah, Meister Patelin,“ rief er. „Schnell ein kühlendes Arcanum, eine Art von Schlagwasser oder dergleichen.“

„Was giebt es?“ sagte der Apotheker. „Wofür soll es sein?“

„Nun, der Wildschütze, den sie heut morgen eingebracht haben, droht uns durch den Tod zu entschlüpfen,“ lachte der Scherge roh. „Er schreit und wimmert und behauptet, er habe einen Stein im Leibe, der ihn zur Verzweiflung treibt. Meister Artus, der Schließer vom Châtelet, sendet mich zu Euch, daß ich einen kühlenden Umschlag hole. Es wird wohl nicht so arg sein.“

Germain Colot war bei diesen Worten aufmerksam geworden; er legte hastig seinen Mantelsack nieder und trat zu dem Schergen.

„Wie sagt Ihr? einen Stein?“ fragte er. „Dafür ist dieses Schlagwasser kein Mittel. Hier – da habt Ihr ein Stück, zwei Livres tournois; wollt Ihr noch einmal so viel verdienen, so sorgt dafür, daß ich zu dem Gefangenen kommen und ihn untersuchen darf.“

„Ah, Ihr seid der Doctor Colot,“ grins’te der Scherge, „ich kenne Euch wohl. Geht mit mir.“

Bei der Bekanntschaft mit dem Häscher, und auf eine Empfehlung des Apothekers hielt es für den Arzt nicht schwer, in das Gefängniß zu gelangen. Der arme Sünder saß in einem niedrigen Gewölbe. Ein schmales Fensterloch ließ den spärlichen Lichtstreifen hereinfallen, der das feuchte Behältniß nur an einer Stelle matt erleuchtete. Der Wilddieb ruhte auf einem Steine, den man mit schlechter Wolldecke bekleidet hatte, sein linker Fuß war durch eine starke Kette an die Wand gefesselt. Als der Doctor mit dem Schließer in die Zelle trat, suchte der Gefesselte sich zu erheben, fiel aber mit lautem Stöhnen auf sein hartes Lager zurück.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 746. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_746.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)