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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

durch böse Geister des Rauches verstärkt, um so ärger zurückkehren, aber doch in der Regel in die schon anderweitig überaus gesegnete Berliner Luft entweichen können.

Die Dunströhren gelten für einen großen Triumph in diesem Prachthause. In den meisten andern Häusern und Wohnungen aber denkt man an solche Vervollkommnungen nicht. Dadurch sind die immer gewaltiger anschwellenden Großstädte trotz ihres schnellen Aufblühens an den Eisenbahnschwingungsknoten wahre Mördergruben geworden und die Sterblichkeit darin nimmt mit der anwachsenden Größe immer mehr zu. Nach der vergleichenden Sterblichkeitsstatistik gehen durchschnittlich auf dem Lande und in gesunden Kleinstädten jährlich siebzehn, in Großstädten zwanzig bis dreißig von je tausend Menschen mit Tode ab, und selbst in London, der größten und zugleich gesundesten Stadt der Welt, müssen noch jährlich etwa zehntausend Menschen den Drachen der Luft- und Wassermiasmen geopfert werden. In Berlin, Wien und Paris steigen diese Opfer freilich zu einer viel erschrecklicheren Anzahl, nämlich zu vierundzwanzig bis siebenundzwanzig im Tausend. Sicher ist, daß London und andere englische Städte den durchgeführten Entwässerungssystemen die Erhaltung von jährlich vier bis fünf Menschen vom Tausend verdanken und die Sterblichkeit in Folge der unterirdischen Cloaken, welche aus den Waterclosets alle miasmatische Lebensabfälle immer frisch der Unterwelt übergeben, je nach Vollkommenheit derselben von siebenundzwanzig und vierundzwanzig bis auf einundzwanzig und zwanzig vom Tausend gesunken ist. Diese und andere Thatsachen sprechen ungemein günstig für unterirdische Canalisirung der Städte, zumal seitdem man in England den größten Vorwurf, den man demselben im Interesse der Landwirthschaft machte, zu beseitigen weiß.

In dem Artikel „Ein Londoner Kummerhof“ wurde bereits beiläufig auf diese kostbare Entdeckung hingewiesen, und eine große Menge an die Redaction eingesandter Anfragen und Gesuche, das Geheimniß dieser Entdeckung mitzutheilen, beweisen, daß man auch in Deutschland die Wichtigkeit derselben zu würdigen weiß. Sie besteht darin, daß man durch einen chemischen Proceß im Großen aus den Cloakenflüssigkeiten den eigentlichen kostbaren Düngergehalt, die neubefruchtenden Stoffe für unsere Felder und Fluren so vortheilhaft ziehen kann, daß der Werth derselben von zwei Silbergroschen sich auf etwa zweitausendfünfhundert Silbergroschen erhöhen kann. Mit anderen Worten heißt dies: eine Tonne gewöhnliche Cloakenflüssigkeit enthält etwa für zwei Silbergroschen Düngerwerth, während dieselbe Masse durch den neuen chemischen Proceß aus der gewöhnlichen Flüssigkeit herausgefischt und verdichtet zweitausendfünfhundert Silbergroschen werth ist. Kein Wunder, daß praktische Landwirthe und sonstige Sachverständige das Geheimniß dieser kostbaren Verdichtung kennen lernen möchten. Der Verfasser dieses und des Kummerhof-Artikels muß leider bekennen, daß er dasselbe nur aus mancherlei englischen Berichten über großartige Experimente mit diesem neuen chemischen Proceß kennen gelernt hat, und aus diesen Berichten bis jetzt weiter nichts offenbar geworden ist, als daß die Erfinder hauptsächlich mit Kalk und Alaun und noch zwei oder drei wohlfeilen, aber von ihnen noch geheim gehaltenen chemischen Stoffen arbeiten, die Cloakenflüssigkeiten dadurch wirklich unschädlich und geruchlos gemacht und ihres ganzen Düngergehalts so entledigt werden, daß derselbe in verdichteter, gebundener, also geruchloser Form auf das Vortheilhafteste und Reinlichste als Dung verwendet werden kann. Damit wäre also ein großes Problem gelöst und alle Feindschaft gegen Canalisirung der Städte, selbst mit Liebig an der Spitze, geschlagen. Das Geheimniß des Verfahrens wird sicherlich früher oder später ganz bekannt werden, und dem Verfasser selbst liegt daran, es womöglich zuerst in englischen Blättern zu entdecken und dann sofort mitzutheilen.

Aber inzwischen sind neue Feinde der Canalisirung bekannt geworden, nämlich die bösen Luftgeister, die aus allen möglichen Oeffnungen der Cloaken, selbst durch die festen Wände, immerwährend herausdringen und, wie bereits angedeutet, auch die besten Häuser und Wohnungen nicht verschonen, während allerhand flüssige und feste Gifte aus denselben an schadhaften Stellen und mit der Zeit selbst durch gutes Mauerwerk in den Boden dringen und das Wasser vergiften. Und gerade dieses Wasser ist nach genau ermittelten Thatsachen englischer und deutscher Chemiker die Hauptquelle ansteckender Krankheiten, namentlich der Cholera und typhusartiger Fieber, welche in der aus denselben Quellen verpesteten Luft immer die größten Verheerungen anrichten. Nicht die Phantasie, sondern Jahre lang fortgesetzte sorgfältige Untersuchung von Männern der Wissenschaft und die nüchternste Sterblichkeitsstatistik weisen unwiderleglich nach, daß noch jährlich Millionen Menschen von diesen Ungeheuern der Civilisation thatsächlich erwürgt werden.

Zehn Jahrgänge von kostbaren Berichten des Londoner Gesundheitsamtes, die Mittheilungen des Congresses für sociale Wissenschaft in Birmingham, die Cholera-Conferenz von Aerzten und Naturforschern zu Weimar, der Ausschuß von Naturforschern für eine besondere Hygieine oder öffentliche Gesundheitspflege in Frankfurt am Main, werthvolle Schriften des Dr. Varrentrapp daselbst, eine Broschüre des Stadtbauraths Hobrecht in Stettin, das Gutachten der wissenschaftlichen Deputation über die Canalisirung Berlins und andere Bücher, Broschüren, Schriften und Erfahrungen, alle verdammen einstimmig die Luft und das Wasser, besonders aber die entsetzliche Bewirthschaftung der Städte, als die Hauptquellen von Krankheit, Siechthum, Epidemie, Elend und Tod. Desto weniger stimmen diese heiligen Georgs gegen die moderne Drachenbrut in ihren Mitteln zu deren Erlegung überein. Es ist deshalb vor allen Dingen höchste Zeit, auch in Deutschland nach englischem Muster ein Gesundheitsamt (Board of Health) aus den besten Männern der Wissenschaft und der Erfahrung zu gründen, durch das Land hin zu verzweigen und mit den gehörigen Vollmachten zu versehen, um wenigstens die erkannten Hauptquellen dieser Krankheiten und künstlichen Menschenopferungen zu beseitigen.

Das englische Gesundheitsamt ist befugt und verpflichtet, Untersuchungen über den Gesundheitszustand einer Stadt oder Gegend anzustellen, wenn mehr als dreiundzwanzig von je tausend Einwohnern im Jahre sterben oder wenigstens ein Zehntel der Steuern zahlenden Bewohner darum nachsuchen. Je nach dem Ausfall dieser Untersuchungen kann es beim betreffenden Ministerium beantragen, daß für diese Stadt oder Gegend eine besondere Gesundheits-Commission niedergesetzt werde. Diese hat dann das Recht, ermittelte Quellen der Ungesundheit in Luft und Wasser auf Kosten der Bewohner nöthigen Falles gewaltsam zu beseitigen, ungesunde Industrien an dieser Stelle zu verbieten oder ganze Häuser, in welchen den nothwendigen Bedingungen für gesundes Wohnen darin nicht genügt wird, umzubauen oder niederzureißen.

Ohne diese Bestimmungen durchweg als Muster zu empfehlen, müssen wir doch anerkennen, wie es auch bereits vielfach in der Presse geschehen ist, daß eine solche Macht, eine solche Behörde, in Deutschland unerläßlich geworden ist, und alle Kräfte aufbieten, ein solches über Deutschland verzweigtes Gesundheitsamt in’s Leben zu rufen. Die Herren, welchen jetzt die Sorge für öffentliche Gesundheit obliegt, sind der Aufgabe durchaus nicht gewachsen. Wer sich um die Sache bekümmert hat, weiß das gehörig, und Jeder kann es in jeder Stadt, in jedem, auch oft dem feinsten Hause sehen, hören, schmecken, fühlen und besonders riechen. In Berlin ist es notorisch, daß jeder nächtliche Reinigungsact die Luft weit umher in der Nachbarschaft, selbst durch verschlossene Doppelfenster hindurch, geradezu verpestet. Aus einem sonst sehr respectablen Hause zog eine Familie aus, weil während solcher Nächte das Silberzeug und sonstige metallische Gegenstände gräulich, grünlich angegriffen und angeschwärzt wurden. Die Vorschriften wegen Desinfection werden eben nur sehr ausnahmsweise erfüllt. Und was diese nächtliche „Abfuhr“ gewöhnlich für ein Schicksal haben mag, können wir aus einer nächtlichen Jagdscene schließen, wie sie unlängst in Berliner Blättern geschildert ward.

Nachts um die zwölfte Stunde poltert es schwerfällig durch die classische Schönheit des Brandenburger Thores. Späte Wanderer und aus fröhlichen Gesellschaften zurückkehrende Partien verstummen in ihrem Gelächter und fliehen. Das polternde Ungethüm bewegt sich hinaus in eine der schönsten Gegenden des Thiergartens am Goldfischteiche und fängt an, angesichts der Statue der Schönheits- und Liebesgöttin sich seiner entsetzlichen Bürde zu entledigen. Da sprengt eine berittene Schaar bewaffneter Helden durch’s Brandenburger Thor heran und der noch ziemlich gefüllte Wagen donnert fliehend Charlottenburg-wärts, nach allen Seiten ruchloses, aber geruchvolles Verderben speiend, die berittene Schaar bewaffneter Helden hinterher, und ihr gelingt es, freilich ohne jede Rücksicht auf ihre Nasen, das verbrecherische Gespann einzuholen. Der Wagenlenker gesteht mit weinerlicher Stimme,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 759. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_759.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)