Seite:Die Gartenlaube (1868) 770.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Dritte Abtheilung.
Das Brillantkreuz.
1.

Es ging in den Herbst hinein. Schon kamen kühle Tage und lange Abende, die Zahl der Curgäste lichtete sich. Dennoch war Schaumberg gerade jetzt besonders in Anspruch genommen; eine epidemische Kinderkrankheit grassirte ziemlich bösartig in der Gegend und hielt ihn in steter Bewegung. Elisabeth war deßhalb überrascht, ihn eines Morgens zu ungewöhnlicher Stunde nach Hause kommen zu sehen; beim ersten Blick bemerkte sie, daß er unwohl oder ernstlich verstimmt sein müsse. Mit einiger Heftigkeit wies er ihre besorgten Fragen zurück, ging in sein Arbeitszimmer und schloß hinter sich ab.

Es war das erste Mal, daß er Elisabeth unfreundlich, ja abstoßend begegnete. Dies erste Mal! – Welch’ ein Sturz aus dem Himmel auf den Steinboden des Lebens ist es für das junge, liebende Weib, wenn das Auge, das bisher stets mit Entzücken auf ihm ruhte, es zum ersten Mal finster anblickt, wenn der Mund, der immer nur Liebesworte sprach, heute nichts findet, als ein rauhes Wort! – Das unschuldigste Herz wird sich dann fragen: bist Du schuld daran? und weder Rast noch Ruhe finden, bis dieser bange Zweifel gelöst ist. Wie aber ist dem Herzen zu Muthe, das sich dem Geliebten gegenüber nicht rein und frei fühlt, das etwas zu verbergen hat und in der Wolke auf seiner Stirn den Blitzstrahl ahnt, der alles Glück und Heil verzehren kann?

Elisabeth hatte etwas zu verbergen! Es gab in ihrer Vergangenheit einen wunden Punkt, den sie um keinen Preis dem Auge des Geliebten offenbart wissen wollte, der ihr die Liebe kosten konnte, die ihr Alles war! – Ihr Herz klopfte zum Zerspringen, während sie athemlos auf den ruhelosen Schritt horchte, der im Nebenzimmer auf und nieder ging. Leise schlich sie wieder und wieder bis zur Thür, der geliebte Name bebte auf ihren Lippen, und doch wagte sie nicht zu rufen, wagte nicht Einlaß zu erbitten – wozu auch den Augenblick beschleunigen, dem sie mit Herzensangst entgegen sah?

Nach einer bangen halben Stunde kam ein Bote, der Schaumberg zu einem schwer Erkrankten nach Amt Stein rief – nun durfte die junge Frau anpochen, nun mußte er durch ihr Zimmer kommen, und sie konnte vielleicht auf seinen Zügen lesen, ob er wirklich erfahren hatte, was sie fürchtete! Nach einigen Augenblicken erschien Otto; er sah furchtbar verstört aus und durchschritt das Zimmer hastig, ohne nach Elisabeth umzublicken. Als er sich beim Hinausgehen unter der Thür wandte, sah er ihren angstvollen Blick auf sich geheftet und nickte ihr zu. Sie flog zu ihm, faßte seine Hand und fragte in flehendem Ton: „Was ist Dir?“

„Es ist nichts,“ sagte Otto kurz, indem er sich sanft von ihr losmachte – „eine geschäftliche Unannehmlichkeit. Warte nicht mit dem Essen auf mich, ich werde erst gegen Abend zurückkommen.“

Flüchtig strich er mit der Hand über ihr Haar, eine Liebkosung, die ihm eigen war. Elisabeth ergriff seine herabgleitende Hand und küßte sie. Ihr Herz schlug etwas ruhiger, sein Blick war ernst gewesen, aber kein Zürnen lag darin. Wie schwer lasteten dennoch die Stunden dieses Tages auf der Einsamen!

Es war schon tiefe Dämmerung, als Schaumberg nach Hause kam. Elisabeth, die am Fenster nach ihm ausgeschaut, hatte ihn erst nicht erkannt, so schwer und ermüdet war sein sonst so elastischer Gang, so tief gebeugt sein Haupt. Von Neuem zog eine Ahnung von Unglück in ihr Herz. Still ging sie ihm entgegen, nahm den Hut aus seiner Hand und schaute auf in sein blasses Gesicht, seine tief eingesunkenen Augen. Es beruhigte sie, daß er das Wohnzimmer nicht verließ, geräuschlos steckte sie die Lampe an, ließ die Vorhänge nieder und ordnete Alles zu seiner Bequemlichkeit. Er wechselte nur wenige Worte mit ihr, nahm aber seinen gewöhnlichen Platz im Sopha ein. Elisabeth griff zu ihrer Handarbeit; beklommen richtete sie von Zeit zu Zeit eine unbedeutende Frage oder Bemerkung an ihn, die ihn veranlaßte aufzublicken, auch wohl zu antworten, ihn aber seinem stummen Brüten nicht entriß. Endlich sagte er mit einer Geberde, als müßte er etwas von sich abschütteln: „Willst Du nicht lesen, Elisabeth?“

Sie nahm schweigend das Buch zur Hand und begann; zwischen jedem der Sätze hob sich aber ihr Auge angstvoll zu Otto. Er schien sie nicht zu hören und starrte unverwandt vor sich hin. Ihre Stimme wurde immer bebender, immer unsicherer, bis sie endlich die erstickende Beklemmung nicht länger trug, das Buch von sich warf und, neben ihm auf die Kniee niedergleitend, mit Thränen im Auge rief: „Otto, Dir ist Schweres geschehen!“

„Ja,“ sagte er, „mir ist viel geschehen! Sich in einer Menschenseele getäuscht sehen, die man geliebt, ist hart –“

„Höre mich, Otto, ehe Du urtheilst!“ rief die junge Frau leidenschaftlich, „höre erst, was mich zu der That geführt, die ich schon tausendmal bereute!“

„Dich?“ sagte Schaumberg mit namenlosem Erstaunen. „Wer dachte an Dich? Von welcher That sprichst Du, was hast Du zu bereuen? – Ist der Kelch noch nicht gefüllt?“ rief er aufspringend in heftigem Ton, „wartet noch mehr auf mich?“

Elisabeth stand regungslos, ihr Busen wogte. „Ja, Otto,“ sagte sie tonlos, „ich habe etwas zu bereuen! Nichts, was Du mir zum Vorwurf machen könntest, und doch etwas, das mich in Deinen Augen tiefer stellen würde. Verlangst Du’s, so sage ich es Dir jetzt, in diesem Augenblick – hast Du aber Vertrauen genug, Liebe genug, um mich zu schonen, so laß mir mein Geheimniß, bis ich selbst den Muth finde, es Dir zu bekennen!“

Otto sah sie schweigend an. „Ich habe manchmal gefühlt,“ sagte er nach einigen Augenblicken ernst, „daß Du mir etwas verhehlst, ich habe es nur nicht glauben mögen – erst neunzehn Jahre und doch schon eine Vergangenheit! – Aber sei ruhig, ich verlange, ich wünsche kein Vertrauen, das nur ein Zufall Dir abgerungen hätte – schweige, oder sprich, wie es Dir selbst Bedürfniß ist.“

„Ich würde Dir Alles sagen,“ rief sie schmerzlich, „wenn Deine Seele frei und ruhig wäre wie sonst! Heute, wo Dich Anderes, Schweres drückt, kann ich es nicht! Wenn Du mir nicht zürnst, wenn Du mich liebst, so laß mich jetzt an nichts denken als daran, Deine Sorgen zu theilen! Ich bin Deine Elisabeth, ich habe ein Recht darauf, meinen Antheil an Deinem Kummer zu fordern! Die Angst um Dich erstickt mich – Otto, was ist Dir geschehen?“

„Es ist allerdings genug,“ erwiderte er, indem er erschöpft auf seinen Sitz zurücksank, „um vorerst nicht nach Weiterem zu begehren – und ich will es Dir sagen. Was Du zu wissen verlangst, ist ernst – mein guter Name hängt daran, der Name, den Du seit drei Monaten trägst.“

Elisabeth legte ihre beiden gefalteten Hände auf seine Schulter und sah bang in sein blasses Gesicht; es trug einen Ausdruck, der sie zittern machte.

„Ich habe Dir manchmal von meiner Kindheit, von meinem Vater erzählt,“ begann Otto, „ich habe Dir nicht verschwiegen, daß er den Seinen nicht das war, was er sollte, daß ein unseliger Hang zur Genußsucht ihn seiner bescheidenen Häuslichkeit entfremdete. Dennoch habe ich ihn sehr geliebt, und die Erinnerung an seine Schwächen war weniger stark in mir als die an seine Liebenswürdigkeit. Sein Andenken war mir theuer! Damit ist es aus, seit heute – mein Vater – mein Vater war ein Ehrloser!“

Otto schlug beide Hände vor das Gesicht, sein Körper bebte vor Aufregung. Bald aber nahm er sich zusammen und fuhr mit gewaltsamer Ruhe fort: „Ich erhielt diesen Morgen einen Brief des Oberbürgermeisters in –berg. Er schreibt mir, daß sich bei einer Revision der Bücher des dortigen Steueramtes ein Cassendefect herausgestellt und die nähere Untersuchung ergeben hat, daß derselbe sich auf die Zeit zurückführen läßt, wo mein Vater das Cassenamt verwaltete. Schon der Beamte, der nach meines Vaters Tode in dessen Stelle eintrat, hatte die falsche Buchführung entdeckt, sie aber aus Schonung gegen unsere ihm befreundete Familie verschwiegen, da ja der Schuldige bereits durch den Tod jeder Verantwortung entrückt war. Der zweite Nachfolger jedoch, der erst ganz kürzlich das Cassenamt übernahm, hatte keinen Anlaß, gleiche Schonung zu üben; er brachte die Sache zur Anzeige beim Oberbürgermeister und hat nachgewiesen, daß es sich um jahrelange, mit großem Geschick durchgeführte Unterschlagungen handelt, und daß über die Person des Schuldigen kein Zweifel bleiben kann.“

Erschüttert drückte Elisabeth des Gatten Hand an ihr heftig

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 770. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_770.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)