Seite:Die Gartenlaube (1868) 788.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

einem grauen Bart und einer Warze auf der Stirn. Es ist dummes Zeug, ich weiß es wohl, aber ich bin so schwach, Lorenz, vor meinen Augen tanzen gleich die schauerlichsten Fratzen, wenn ich in die Küche trete. Wart einmal, da im Schrank sind noch Zwieback, die kannst Du in den Wein tunken, die schaden Dir gewiß nicht.“

Sie öffnete einen, altertümlichen geschnitzten Schrank mit Messinggriffen, aus dem die Tante so manchen Pfefferkuchen oder Apfel hervorgeholt hatte, ihren jungen Vorleser zu belohnen. Einen Teller mit hartem Backwerk nahm sie heraus, dazu ein altes mit eingeschossenen Figuren verziertes Krystallglas, und stellte beides vor Lorenz auf den Tisch. „Komm, Lore,“ sagte er, indem er das Glas vollschenkte, „Du sollst es mir credenzen. Wir wollen auf einen frischen Lebensmuth mit einander trinken.“

„Trinke nur Du,“ sagte sie. „Ich brauche es nicht mehr. Im Gegentheil, was sollte ich damit anfangen? Es würde mir das Sterben nur schwerer machen, wenn ich das Leben kurz vorher noch einmal liebgewänne.“

„Du wirst trinken, Lore,“ sagte er ernst und hielt ihr das Glas an die Lippen, daß sie wollend oder nicht ein paar Tropfen kosten mußte. „Ich habe Dir schon erklärt, daß ich diese Reden nicht mehr hören will, daß ich es gottlos finde, sich muthwillig selbst den Tod heranzuängstigen, zu fasten und zu wachen, bis man sich endlich richtig selbst umgebracht hat. Du siehst freilich nicht so rosig aus, wie ich Dich zuletzt gesehn, aber ich denke, ein paar Wochen auf dem Lande in guter Luft werden wieder die alte Lore aus Dir machen, wenn auch nicht wieder die wilde, mit der ich Räuber und Wandersmann gespielt habe im Garten hinter unserer Gießerei.“

Sie war auf einen Stuhl geglitten, der neben dem Schränkchen halb im Schatten stand, und hielt die Katze wie einen Muff vor sich auf dein Schooß. Ein paar Augenblicke saß sie da, mit geschlossenen Wimpern, als hätten die wenigen Tropfen des starken Weins sie plötzlich eingeschläfert. Und erst während des Sprechens schlug sie mühsam die Augen wieder auf.

„So magst Du wohl reden, Lorenz,“ sagte sie, „weil Du nicht weißt, wie das Alles gekommen ist. Mit dem Schneider unten fing es an, den pflegte die Tante mit unserer Magd, und wollte nicht, daß ich helfen sollte, weil es mich zu sehr angreifen würde. Ich hatte noch nie einen Sterbenden gesehn, nicht einmal einen Todten. Denn wie damals die Nachricht kam, daß meine arme Mutter todtkrank sei, war ich noch zu jung, um gleich allein hinzureisen, und als die Tante sich endlich auf den Weg machte, die Alles so umständlich anfing, und wir hinkamen, um sie zu pflegen, da war sie schon begraben. Die gute Tante hatte gedacht, ihrer Schwester eine Last abzunehmen, indem sie mich zu sich nahm und der Mutter nur den Christel ließ. Nun hatte sie ihr auch den letzten Trost genommen, ihre beiden Kinder noch vor ihrem Ende segnen zu können. Aber so kam es, daß ich ein großes Mädchen geworden bin und nie eine Leiche gesehn habe, da mein Vater, wie Du weißt, auf einer Bergwanderung verunglückte und ich nicht einmal zu seinem Grabe durfte. Und überhaupt hatte ich ein Grauen vor dem Tode, und wenn ich von einem Trauerfall sprechen hörte, träumte ich die ganze Nacht, ich läge im Sarge und meine Freundinnen streuten Blumen auf mich, immer mehr und mehr, bis ich die Last wie einen Mühlstein auf der Brust fühlte und mit einem Schrei erwachte. Aber den Schneider wollte ich dennoch im Sarge sehen, ich schämte mich, daß ich ihm in der Krankheit gar nichts Gutes gethan hatte aus erbärmlicher Feigheit; das wollte ich seiner Leiche abbitten. Auch wurde es mir nicht schwer, ihn anzusehen. Er war nicht verändert, hatte so die bekümmerte verlegene Miene, wie schon bei Lebzeiten, daß er immer so aussah, als rechne er es sich zur Sünde an, nicht gerade gewachsen zu sein und wolle Jedermann deshalb um Verzeihung bitten. Wenn es mit dem Todtsein weiter nichts auf sich hat, dachte ich, warum fürchtet man sich so davor? Ach Gott, damals sprang mein kleiner Christel noch mit der Schulmappe pfeifend die Treppe hinunter und kam denselben Mittag nach Hause, es sei Vacanz, man wisse noch nicht wie lange, und war so vergnügt, daß ich ihn noch schalt, wie er lustig sein könne, wenn der gute Meister, der ihm seine hübschen Kleider gemacht, eben gestorben sei.

Es dauerte auch nicht lange, so war’s mit der Ferienherrlichkeit vorbei, er klagte über heftige Schmerzen, mußte sich legen, und nun begann der Jammer. Ich will nicht wieder daran denken, Lorenz, es macht mich sonst wahnsinnig. Du hast ihn nicht gekannt, weil er bis in sein zehntes Jahr bei einem Halbbruder meiner Mutter war, auf dem Lande. Aber die Tante bestand darauf, daß sie ihn auch übernehmen wollte, er sollte in eine bessere Schule gehen, und so kamen wir Geschwister wieder zusammen, es ist noch kein halbes Jahr. Er war ein so guter Junge, viel besser und sanfter als ich, und ich hatte ihn so lieb, als müßt’ ich Alles nachholen, was ich sieben Jahre lang an ihm versäumt hatte. Wie er nun in seinen Schmerzen lag und immer stöhnte und ich Tag und Nacht nicht von seinem Bette wich, faßte er mir einmal beide Hände so recht fest, hob den Kopf vom Kissen auf und sagte: ‚Nicht wahr, Lorchen, Du läßt mich nicht allein sterben? Es ist so dunkel vor meinen Augen, Du mußt mich an der Hand halten, sonst finde ich den Weg nicht in den Himmel!’ ,Sei nur ruhig, Christelchen,’ sagt’ ich, ,es wird Alles geschehn, wie Gott will? ‚Nein, sagte er, ,Du mußt Gott darum bitten und mußt ihm sagen, daß Du mich nicht verlassen willst. Versprich mir das, Lorchen, sonst kann ich nicht ruhig sterben?‘ ,Ich verspreche es Dir, Christelchen, sagt’ ich, und darauf wurde er ruhiger, aber wie sein Letztes kam, hielt er mir immer die Hände und rief mit schon ganz erloschener Stimme: ‚Komm mit, Lorchen, komm mit! Du hast mir’s versprochen und läßt mich nun doch allein!’ Und das waren ‚seine letzten Worte.“

(Fortsetzung folgt.)





Erlebnisse und Ergebnisse der ersten deutschen Nordpolexpedition.

Von Otto Ule.

Aus jenen furchtbaren Regionen der Nordpolarwelt, wo auf unabsehbare Fernen der Blick des Seefahrers nur auf Eis und Schnee fällt, wo nur Eisfelder und Eisschollen von wilden Stürmen bewegt ihr grausiges Spiel treiben oder riesige Eisberge, gleichsam aus schimmernden Sapphir- und Lasurblöcken zu den abenteuerlichsten Formen zusammengesetzt, das Auge mit Entzücken, die Seele mit Angst und Entsetzen erfüllen, wo Monate lang die Sonne nicht auf- und Monate lang nicht untergeht, aus jenen Regionen ist am 10. October ein deutsches Schiff in einen deutschen Hafen zurückgekehrt. Da wird die Neugier verlangen von den arktischen Wundern zu hören, welche die kühnen Helden dieses Schiffes erschaut, von den Abenteuern, die sie im Kampf mit all den Schrecken der nordischen Natur erlebt haben. Aber der Leser der „Gartenlaube“ weiß, daß diese Männer nicht ausgezogen sind, um erzählen zu können, sondern daß sie eine ernste Aufgabe zu erfüllen hatten, die ihnen von der deutschen Wissenschaft und der deutschen Nation gestellt war. Das rückgekehrte deutsche Schiff trug die erste deutsche Nordpolexpedition, die von einem deutschen Forscher angeregt, mit den Mitteln des deutschen Volkes ausgerüstet und bestimmt war, an der Lösung jenes großen Problems mitzuarbeiten, das bereits seit Jahrhunderten die größten seefahrenden Nationen der Erde beschäftigt hatte, der Durchforschung des geheimnißvollen Gebiets, welches den Pol unserer Erde umgiebt. Nicht Fragen der Neugier, aber des wissenschaftlichen und nationalen Interesses wird der Leser auf dem Herzen haben. Ist denn nun wirklich dieses Räthsel gelöst, oder hat unsere Expedition wenigstens diese Lösung gefördert? Hat der deutsche Seemann gezeigt, daß er es an Muth, an Ausdauer, an Geschicklichkeit und Tüchtigkeit den Seeleuten anderer Nationen gleichthun kann, daß er hoffen darf, sich einst neben die Hudson und Cook, Franklin und Parry stellen zu können? Hat das deutsche Schiff die Ehre der deutschen Nation gerettet, die sich so lange von allen solchen Entdeckungsunternehmungen ferngehalten hat, weil sie kleinmüthig und verzagt nicht mehr an ihren Beruf zur See, den sie doch einst so glänzend


Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 788. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_788.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)