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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

No. 52.   1868.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


Lorenz und Lore.
Von Paul Heyse.
(Schluß.)


Dieser Plan schien dem guten Manne, der in der frischen Trauer um seine Halbschwester und mehr noch um den Knaben nicht sehr fähig war, selbst zu überlegen, das Rathsamste, was unter so wunderlichen Umständen zu thun sei, und ohne viel Worte zu machen, da ihm der Eintritt in das ausgestorbene Haus die Brust beklemmte, folgte er Lorenz die Treppe hinauf in das Wohnzimmer, wo der Anblick des blassen schlummernden Mädchens und des leeren Alkovens ihm einen Strom von Thränen entpreßte.

Indessen stieg Lorenz, der je eher je lieber diesem Hause und der ganzen Stadt Valet zu sagen wünschte, in das obere Geschoß und trat in Lore’s Zimmerchen, das ihm noch von ihrer Kinderzeit her bekannt war. Während er die Betten, aus denen sie nachgerade herausgewachsen war, zusammenpackte, um sie auf den Wagen zu schaffen, sah er sich in dem sauberen Stübchen mit wehmüthig heiteren Augen um. Es war nicht viel verändert, seit sie Beide in allerlei phantastischen Kinderpossen hier so manche Stunde verbracht hatten. Wie er das Schränkchen öffnete, um das Nöthigste an Kleidern miteinzupacken, glaubte er noch die Farben eines Tüchleins zu erkennen, das sie ihm selbst einmal um den Kopf gebunden, als er einen verwundeten Räuber zu spielen hatte. Und dort hing der alte weiße Schleier, freilich mit den Jahren ergraut, der immer als Brautschleier gebraucht wurde, wenn das Spiel zu Ende war und die geraubte Prinzessin mit dem Räuberhauptmann Hochzeit machte. Auch den nahm er zum Andenken mit. Dann fiel ihm ein Kästchen von eingelegtem Holz in die Augen, das zu unterst im Schranke stand. Der Schlüssel steckte daran, und da es Dinge enthalten konnte, die sie ungern vermißt hätte, erlaubte er sich, es zu öffnen. Es enthielt nichts als allerlei werthlosen Tand, wie kleine Mädchen ihn aufspeichern, ein Halskettchen von Glasperlen, einen alten Taschenkalender, leere Papiere mit Bildern und Sprüchen, in denen einmal Bonbons eingewickelt waren, ein zerbrochenes Messerchen und Aehnliches. Aber wie er es musterte, besann er sich, daß das Messer einmal ihm selbst gehört, daß er die Halskette vor acht Jahren auf einem Markt gekauft und der kleinen Lore geschenkt hatte, und in dem kleinen Kalender stand sein Name mit seiner eigenen Secundanerhandschrift eingezeichnet. Zuunterst endlich lag ein abgegriffenes Buch, das er auch sogleich wiedererkannte. Es war sein altes Exemplar von Schiller’s Räubern, und wie er es jetzt herausnahm und darin blätterte, fielen ihm ein halb Dutzend Briefe in die Hand, die einzigen, die er ihr während der Studentenzeit geschrieben hatte. Jeder steckte noch in seinem Couvert, und sie hatte mit Bleistift den Tag und die Stunde darauf bemerkt, wo sie ihn erhalten hatte. Wie er dies rührende Schatzkästlein einer heimlichen Liebe in der Hand hielt, mußte er einen Augenblick daran denken, was er empfinden würde, wenn das Alles einer Todten gehörte, und er wäre nur dazugekommen, um von dem Vermächtnis; eines getreuen Herzens, zu spät, Besitz zu ergreifen. Dann aber durchdrang ihn gleich wieder mit hohem Jubel das Gefühl, daß er gerade noch zur rechten Zeit gekommen sei und nur warten müsse, bis sie die Augen wieder aufschlage, um das liebe Herz, das sich ihm so früh schon auf ewig ergeben, in beide Hände zu nehmen und nie wieder loszulassen. Also schloß er das Kästchen sorgfältig zu, stellte es wieder in den Schrank und nahm den Schlüssel mit.

Als er endlich mit all seinem bunten Gepäck auf die Straße hinunterkam, fand er hülfreiche Hände genug, Alles geschwind auf dem Wagen unterzubringen, und konnte dazwischen von allen Seiten hören, wie sehr man den Muth und die aufopfernde Sorge des Mädchens für ihre Kranken zu loben wußte, und wie man es ihr gönnte, jetzt aller Noth und Gefahr entrückt zu werden. Ein Nachbar, ein zuverlässiger Mann und Mitglied des Magistrats, dem Lorenz auch die Aufsicht über das leere Haus anvertrauen konnte, half ihm in dem Hinteren Theil des Wagens ein welches Lager herstellen und erzählte dabei mit Thränen, wie viel seine jetzt auch gestorbene Frau auf die Lore gehalten hätte. Er ging selbst mit hinauf, die Schlafende sorgsam, so daß sie nicht aufwachte, die Treppe hinunterzutragen. Als man sie dann sanft auf den Wagen gehoben und in die Kissen gebettet hatte, daß auch ein stärkeres Rütteln ihr nicht wehthun konnte, wurde das Leintuch wieder über die runden Stäbe gespannt, so daß sie gegen Sonne und Staub so wohl geschützt lag wie unter einem Himmelbette. Der Kater war ihr nachgelaufen bis an die Schwelle der Hausthür; dort schien er mit sich zu Rathe zu gehen, ob er bleiben oder mitauswandern solle. Aber nach der gemüthlosen Art seines Geschlechts entschloß er sich, uneingedenk, wie wohl ihm auf Lorens Schooß gewesen war, lieber das Haus zu hüten, und sah dem langsam fortziehenden Wagen mit größtem Gleichmuthe nach.

Erst als sie aus dem Thore waren und der Wagen nun auf der ebenen Landstraße rasch dahinrollte, wandte sich Lorenz, der vorn neben dem kutschirenden Onkel saß, nach der Schläferin um und athmete wie von einem Alpdruck befreit auf, als er zu bemerken glaubte, daß schon jetzt ihre Wangen sich zu röthen anfingen und der ängstliche Zug zwischen den Brauen verschwand. Und wie lieblich lag sie da, ganz umschimmert von dem goldenen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 817. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_817.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)