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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

gehen. Siehst Du da am Ende des Gartens das Sommerhäuschen, zu dem die drei Stufen hinaufführen? Von da aus sieht man über, die Gartenmauer auf den Kirchhof, und der Chor der Kirche ist nur zehn Schritte weit entfernt. Wenn im Sommer, wie jetzt, die Kirchenfenster offen stehen, hört man den Prediger. Wort für Wort bis in unsern Garten herüber. Da kannst Du Dich hinsetzen und ganz im Verborgenen den Feiertag heiligen, und wenn es aus ist, vor uns Anderen wieder hier in Deinem Schmollwinkel sitzen.“

Damit nahm sie den gesenkten Kopf des Mädchens zwischen ihre Hände, küßte sie herzlich auf Stirn und Mund und ließ sie dann allein.

Bald darauf fingen die Glocken an zu läuten und nun sah die einsam Trauernde, hinter den Vorhängen des offenen Fensters verborgen, alle Hausgenossen, die Kinder voran, durch den Garten wandeln, nach dem Pförtchen, das auf den Kirchhof führte. Lorenz ging neben, seiner Mutter; er hatte das Gesicht still zu Boden gekehrt, und Lore glaubte einen traurigen Zug um die Lippen zu bemerken, und daß er blasser als sonst war. Es wurde ihr so weh dabei, daß ihr die Augen übergingen. Dann aber, als nun außer ihr keine lebende Seele im Hause war, faßte sie sich doch ein Herz und ging mit ungewissen Schritten, wie eine eben Genesene, über den Hausflur in den Garten. Es war ihr so selig beklommen zu Muth, als kehrte sie aus dem Grabe wieder in die Himmlischen Lüfte zurück die sie zu athmen fast verlernt. Die Lilien und Centifolien betäubten sie fast mit ihrem Duft, die Morgensonne übergoß sie so gewaltig mit Wärme und Glanz, daß sie nach jedem zehnten Schritt stehen bleiben und die Augen schließen mußte. Sie athmete erst wieder freier, als sie das Sommerhäuschen erreicht hatte, in dessen kühlem, von Jalousien rings umschlossenem Raum eine lauschige grüne Dämmerung herrschte. Da setzte sie sich mit zitternden Knieen auf eine Bank, faltete die Hände im Schooß und horchte andächtig hinaus, wie nun die Glocken verhallten, die Orgel anhob und bald darauf der Gesang der Gemeine einfiel. Wie einem Wanderer, der viele Tage durch Frost und Hitze auf wilden Wegen sich durchgeschlagen hat, ein warmes Bad allen Staub und alle Mühsal von den Gliedern spült, so umbrauste sie der feierliche Strom der Musik und löste den Druck, der auf ihrer Seele lag. Dann Hörte sie die tiefe ruhige Stimme des Pfarrers und verstand wirklich hier in der Ferne jedes seiner Worte. Er hatte den Text gewählt, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen müssen. Dieses tiefsinnige Wort, dessen Gepräge durch gedankenlosen Gebrauch wie manch anderer goldene Spruch abgegriffen und verflacht worden ist, suchte er erst, so weit es seiner ländlichen Gemeinde verständlich war, nach seinem ganzen Umfang im Allgemeinen auszulegen, und ging dann auf die Erlebnisse der nächsten Gegenwart über, die Wahrheit dieser Verheißung an der furchtbaren Heimsuchung durch die mörderische Krankheit zu bewähren. So viele, die sorglos hingelebt und ihres Schöpfers schier vergessen hätten, seien durch die Trauer, die über sie und ihre Nächsten gekommen, nach innen geführt und an das Heilige und Ewige erinnert worden. Alle christlichen Tugenden, die in guten Tagen verachtet und kaum gedankt zu werden, pflegten, habe die allgemeine Noth zu Hülfe und That aufgeboten; der Mensch sei dem Menschen brüderlicher nahe getreten, als sonst, und unter den schweren Prüfungen des himmlischen Vaters habe die bange Seele wieder lernen müssen, daß wir alle Kinder Gottes seien, und daß unser Vater uns liebe, weil er uns züchtige. Wie bei einem Erdbeben, das friedliche Hütten und Häuser zerstöre, oft eine warme Heilquelle oder verborgene Erzadern zu Tage kämen, deren Entdeckung die heimgesuchte Gegend zehnfach für ihren Verlust entschädige, so werde der Segen, den hier der Tod gestiftet, hoffentlich auf Geschlechter hinaus nachwirken, und die Saat der Trübsal Früchte der Freude bringen.

Das und Aehnliches sagte der wackere Diener Gottes und wohl Wenige unter seinen Zuhörern wurden tiefer von seinen eindringlichen Worten bewegt, als das verwaiste Mädchen, das ihnen über den Friedhof hinüber lauschte. Als er dann gebetet hatte, hub er noch einmal an: er habe der andächtigen Gemeinde noch mitzutheilen, daß der Segen des Herrn in dieser Zeit der Prüfung sich an zwei getreuen Herzen erwiesen habe, die angesichts des Todes den Bund für’s Leben geschlossen und somit ein neues Zeugniß dafür abgelegt hätten, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen müssen. Auch in ihnen habe das Beben der Erde, auf der sie bisher, ohne sich zu erkennen, neben einander gewandelt, die warme Quelle an den Tag gebracht und ihre Kinder und Kindeskinder würden dereinst die schwere Schickung zu preisen haben, aus der, wenn Gott Segen verleihe, eine fröhliche Zukunft entsprießen würde.

Bis hierhin hatte die Lauscherin im Sommerhaus mit Herzklopfen zwar, weil sie an ihre eigenen Liebe dachte, aber noch ahnungslos zugehört. Als aber nun die Gemeinde aufgefordert wurde, das verlobte Paar mit dem Prediger gemeinsam der Gnade des Herrn zu empfehlen und nach dem Namen, der ihr der theuerste war, ihr eigner Name von der Kanzel ertönte, war der Eindruck so übermächtig, daß ihr einen Augenblick die Besinnung schwand und ihr Kopf gegen den Fensterrahmen sank, hinter dem sie gesessen hatte. Sie hörte nichts von dem Segen, den der Prediger der Gemeinde ertheilte, nichts von der Orgel, die mit Brausen einfiel und den Schlußgesang begleitete, und erst, als sich Schritte den Stufen des Sommerhäuschens näherten, wachten ihre Sinne wieder auf. „Wo steckt das eigensinnige Ding?“ hörte sie den Meister rufen. „Was? Nicht mit in die Kirche gehen, wenn man aufgeboten wird? Und nun mit dem eigenen Schwiegervater Versteckens spielen? Schöne Sitten das! Aber nun soll sie auch zur Strafe erst dem alten Graubart einen Kuß geben, ehe wir sie dem Bräutigam lassen.“

Mit diesen Worten öffnete der Alte die Thür und kam gerade recht, das Mädchen, das aufgestanden war, ihm entgegenzugehen, und von der Erschütterung in eine zweite Ohnmacht fiel, in seinen Armen aufzufangen. – Als sie die Augen wieder aufschlug fand sie sich, auf der Bank sitzend, allein in der sonnigen Dämmerung mit Dem, dem sie ihr ganzes Lebenlang nie wieder hatte in die Augen sehen wollen, und von dem nun erst der Tod, der sie vereinigt, sie wieder scheiden sollte.




Die liebe lustige Zeit in Stützerbach.


„Anmuthig Thal! Du immergrüner Hain!
Mein Herz begrüßt euch wieder auf das Beste;
Entfaltet mir die schwerbehangnen Aeste,
Nehmt freundlich mich in eure Schatten ein,
Erquickt von euren Höh’n, am Tag der Lieb und Lust,
Mit frischer Luft und Balsam meine Brust!“

Als der Minnegesang von der Wartburg in das Land erklang, zog die Mythe mit ihm über Berg und Thal und legte den Schleier poetischer Weihe um Wald, Fels und Quelle, die lebendig wurden im sagen- und liederreichen Volksmunde. Selbst die alten Zeugen einer bedeutenden Geschichte, die Burgen und Warten, die Schlösser und Klöster Thüringens sind davon umwoben. Aber auch einfache Häuser und niedrige Hütten stehen im grünen Lande umher, die in anderer Weise verherrlicht erscheinen, auf den Wanderer eine besondere Anziehungskraft ausüben, die als Stätten, welche große und gute Menschen betreten haben, geweiht sind für alle Zeiten.

In der Nähe von Ilmenau, auf der Höhe des Berges „Gickelhahn“ mit der weiten Umschau, steht ein Jagdschlößchen in hölzernem Gewande. Das kleine Haus war ehemals ein Lieblingsaufenthalt Karl August’s von Weimar und erweckt beim Anblick immer wieder das Andenken an eine große Zeit und an ein geniales Treiben in dem Walde, der in der Nähe auch die Bretterhütte birgt, in welcher Goethe wochenlang seinen Aufenthalt nahm und das seelenvolle Lied „Ueber allen Wipfeln ist Ruh“ an die Wand beim Fenster schrieb. Als er im Greisenalter an seinem Geburtstage es wieder auffand, weinte er, und auch der Wanderer wird die eigenhändigen Züge des Dichters, mitten im hohen stillen Walde, nicht anders als in der gehobensten Stimmung betrachten können.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 820. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_820.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)