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verschiedene: Die Gartenlaube (1869)


No. 1.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Reichsgräfin Gisela.

Von E. Marlitt.

1.

Es war noch früh am Abend … Die kleine Neuenfelder Thurmglocke erhob pflichtschuldigst ihre Stimme und schlug sechsmal an – das klang wie ein halbersticktes Wimmern; denn der Sturm sauste durch die Schalllöcher und zerblies die dünnen Schläge nach allen vier Winden. Dabei lagerte bereits die undurchdringliche Finsterniß einer lichtlosen Decembernacht über der Erde. … Daß da droben die funkelnden Sternbilder in wandellosem Glanze allmählich aus dem tiefdunklen Grunde hervortraten, daß es unbeirrt leuchtete und glühte wie über der wolkenlosesten, blüthenduftenden Maiennacht – wer dachte daran angesichts der vorüberbrausenden Wetterwand, die Erde und Himmel schied? … Und wer dachte an lieblichen Mondenglanz, an das matte Silberlicht der nachtgeborenen himmlischen Wanderer inmitten der gewaltigen vier Wände, die wie ein riesiger Würfel in das Dunkel hineinragten und an deren Ecken der Sturm machtlos seine Flügel zerstieß? … Da drin funkelte und leuchtete es auch, aber in jener unheimlichen Gluth, die ein Feuerstrom, durch Menschenhand gelenkt und gebändigt, um sich verbreitet. Der Neuenfelder Hochofen war in voller Thätigkeit.

Ein greller, blutigrother Schein entströmte dem Feuerkern des Vorheerdes und floß über die nackten Quadern der Mauern und die geschwärzten Gesichter der schweißtriefenden Arbeiter.

Was dort hervorquoll in fluthender Bewegung und als glühende Thränen geschmeidig vom Gießlöffel herabtropfte, es waren die Erze, die, Jahrtausende starr und kalt im Panzer der Erde zusammengeschichtet, nun während eines einzigen furchtbaren Lebensmomentes in einander rannen, um dann nach menschlicher Willkür und Laune in irgend einer Form zu erstarren!

Die Fenster des mächtigen Baues schimmerten nur matt nach außen, aber droben aus der Esse lohte die weithin sichtbare Gluth, dann und wann eine Funkengarbe ausstoßend, als ob eine vermessene Faust eine Handvoll Sterne gegen den Himmel schleudern wollte – sie zerstoben wirkungslos im Dunkel, wie der Menschengedanke an den sieben Siegeln des großen Geheimnisses über uns.

In dem Augenblick, als es sechs schlug, wurde die Hausthüre der unweit der Gießerei gelegenen Hüttenmeisterwohnung leise aufgemacht; das sonst so vorlaute, unermüdlich nachklingende Thürglöckchen schwieg dabei – es wurde offenbar mit vorsichtiger Hand gehalten, während eine Frau auf die Schwelle trat.

„Ei du liebe Zeit, ‘s ist unterdeß Winter geworden! Da haben wir ja mit einemmal den allerschönsten Weihnachtsschnee!“ rief sie. In diesem Ausruf lag eine heitere Ueberraschung, ein Ton, den man anschlägt beim plötzlichen Wiedersehen eines alten, lieben Bekannten. … Die Stimme klang fast zu sonor und markig für eine Frauenstimme, allein das verschlug den Pfarrkindern von Neuenfeld sehr wenig – sie schwuren auf das, was die Stimme ihrer Pfarrerin sagte, wie auf das Evangelium.

Die Frau schritt vorsichtig die schlüpfrige Freitreppe hinab. In dem langhingestreckten, schwachröthlichen Lichtstreifen, den ihr Laternchen über den Weg warf, flirrte und flimmerte es einen Augenblick ungestört im lautlosen Niedersinken. Aber nun fegte ein jäher Windstoß um die Ecke; er warf der Pfarrerin den großen Kragen ihres Mantels über den Kopf und zerstiebte den lockeren, federweißen Flaum auf Weg und Steg abermals in Atome.

Die Pfarrerin schlug den Kragen zurück, schob mit der Linken den gelockerten Kamm fester in die gewaltigen Haarflechten des Hinterkopfes und zog das um die Ohren gebundene Tuch schützend über die Stirn. Wie ein Reckenweib stand die große, festgegliederte Gestalt inmitten des stäubenden Schneewirbels, und der Laternenschein beleuchtete Züge voll Kraft und Frische, eines jener energischen Gesichter, über welche der strenge Athem des Winters, wie der Wechsel des Lebens gleich erfolglos hinstürmen.

„Nun will ich Ihnen etwas sagen, mein lieber Hüttenmeister!“ wandte sie sich an den Mann zurück, der sie begleitet hatte und auf der Thürschwelle stand. „Da drin durfte ich‘s nicht. … Meine Tropfen sind gut, und auf den Fliederthee lasse ich auch nichts kommen, aber es kann nicht schaden, wenn die alte Röse heute Nacht aufbleibt – vielleicht behalten Sie auch einen von den Hüttenleuten in der Nähe, wenn etwa doch der Doctor herüber müßte.“

Der Mann machte eine Bewegung des Schreckens.

„Tapfer, tapfer, lieber Freund, es kann nicht immer so glatt abgehen im Leben!„“ ermuthigte die Pfarrerin. „Uebrigens ist ja solch ein Doctor beileibe kein Währwolf, und man braucht nicht gleich an das Schlimmste zu denken, wenn man einmal mit ihm zu thun hat. … Ich bliebe gern noch da – denn wie ich merke, sind Sie durchaus kein Held am Krankenbett – aber meine kleinen Panduren daheim wollen essen; ich habe den Kellerschlüssel bei mir und Rosamunde kann nicht über die Kartoffeln. … Und nun Gott befohlen! Geben Sie die Tropfen hübsch pünktlich – morgen in aller Frühe bin ich wieder da!“

Sie ging. Ihre Kleider blähten sich und flatterten wild auf, und der falbe, zitternde Lichtfleck der beunruhigten Laternenflamme hing bald droben an knarrenden Baumästen, bald kroch er scheu

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 1. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_001.jpg&oldid=- (Version vom 11.2.2019)