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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

No. 4.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Reichsgräfin Gisela.

Von E. Marlitt.

(Fortsetzung)


Welcher Modulation war diese heisere Stimme immer noch fähig. Diese unsägliche Verachtung in den letzten Worten klang förmlich vernichtend. Der Angeredete blieb auch, sichtlich frappirt durch die Erscheinung, einen Moment wie angewurzelt stehen, allein dann ließ er die Hand des Kindes los und ging festen Schrittes auf die Kranke zu. Sie war unfähig, länger in der angenommenen Stellung zu verharren, und sank kraftlos zurück; der energische Ausdruck aber blieb sowohl in ihren Zügen, als in der gebieterischen Handbewegung, mit welcher sie nach der Thür zeigte.

„Gehen Sie, gehen Sie!“ rief sie heftig. „Sie brauchen ja nur vor die Thür zu treten, um auf höchsteigenem Grund und Boden zu stehen. … Die Freiherrlich Fleury’sche Forstverwaltung würde es jedenfalls als Waldfrevel strafen, wollte ich auch nur über einen Grashalm neben den alten Mauern dieses Hauses verfügen – aber das Dach über meinem Haupte ist noch mein, unbestritten mein, und hier wenigstens habe ich die herzstärkende Genugthuung, Sie hinausweisen zu können!“

Baron Fleury wandte sich mit einer sehr ruhigen Bewegung nach der mitgekommenen Dame um, die sprachlos vor Erstaunen noch an der Thür stand.

„Führen Sie Gisela hinaus, Frau von Herbeck!“ sagte er mit vollkommen unbewegter Stimme zu ihr. Diese völlige Gelassenheit erschien wahrhaft imponirend gegenüber der Leidenschaftlichkeit der Blinden. Das war aber auch ein Männerkopf, dem schon die Form es leicht machte, das Gepräge vornehmer Ruhe zu bewahren. Die ziemlich tief über die Augäpfel herabsinkenden Lider verschleierten den Blick und machten ihn unergründlich, und die etwas gestreckte, leicht gebogene Nase saß fest, wie gemeißelt in dem Gesicht, das, wenn auch nicht gerade fleischig, doch das Spiel der einzelnen Muskeln nicht scharf hervortreten ließ.

Frau von Herbeck verließ schleunigst das Zimmer. Drüben klaffte Sievert’s Thür, ein heller Lichtschein fiel heraus auf die Steinfließen der Halle, Baron Fleury sah zu seiner Beruhigung, wie die Dame mit dem Kind in die kleine, behagliche Stube trat und die Thür hinter sich schloß.

„Wer hat nach mir gefragt, als ich in Nacht und Elend gestoßen worden bin?“ fuhr die Kranke in wilder Klage fort, nachdem die Schritte der Hinausgegangenen verhallt waren. „Wissen Sie, was es heißt, Baron Fleury, ein halbes Leben lang mit geschlossenem Mund zu dulden, ein ruhiges Gesicht zu zeigen, während das stolze, heiße Herz tausendfach den Martertod stirbt? … Wissen Sie, was es heißt, wenn eine freche Hand uns ein Kleinod stiehlt, an das sich jede Faser unseres innersten Lebens liebend klammert – wenn das geliebteste Auge sich tödtlich kalt von uns abwendet, um glühend und verlangend auf einem tief verhaßten Gesicht zu ruhen? … Wissen Sie, was es heißt, den ehemals stolzen, festen Geist eines Mannes Schritt für Schritt sinken zu sehen, ihn als Spielball in ehrlosen Händen zu wissen, während er uns für jeden Versuch, ihn zu retten, erbittert mißhandelt wie seinen grimmigsten Feind? … Das Alles frage ich freilich vergebens – was weiß Baron Fleury von wahrer Hingebung und Tugend!“ unterbrach sie sich selbst mit unsäglicher Bitterkeit und wandte das Gesicht weg von ihm, der bewegungslos neben ihr stand. Er hatte die Arme untergeschlagen und sah nieder auf die Blinde mit der Geduld und Nachsicht, oder auch der Ueberlegenheit des Stärkeren. Nicht ein Zug seines Gesichts veränderte sich; die langen Lider lagen tief über den Augen, so daß sich die schwarzen Wimpern wie ein Schatten über die bleichen Wangen breiteten. Eine solche Stirn, wie sie dort unter dem dunkellockigen Haarstreifen leuchtete, so ehern und hoch getragen hat nur das schuldlose Gewissen, oder die vollendetste Schurkerei.

„Für Eines aber wird Euer Excellenz das Verständniß nicht fehlen!“ fuhr Frau von Zweiflingen mit erhöhter Stimme in unbeschreiblicher Ironie fort. „Wissen Sie, wie es thut, wenn man auf der Sonnenhöhe der Gesellschaft, inmitten von Glanz und Fülle, nach jeder Richtung hin bevorrechtet, gelebt hat und plötzlich zu Armuth und Entbehrung verurtheilt wird? … Davon weiß das Geschlecht der Fleury ein Lied zu singen. … Ha, ha, ha! Frankreich hat stets gemeint, Deutschland müsse nach seiner Pfeife tanzen – deshalb war es ohne Zweifel nur Consequenz, wenn der geflüchtete Pair von Frankreich, Ihr Herr Vater, schließlich zur Geige griff, und Deutschlands Jugend tanzen ließ, um – sein Leben zu fristen!“

Das traf – das war eine wunde Stelle in der erzgepanzerten Brust des Gegners. In die marmorglatte Fläche der Stirn gruben sich zwei tiefe finstere Falten, die verschränkten Arme lösten sich jählings, und wie unwillkürlich hob der Gereizte drohend die Rechte über dem Haupt der Blinden; aber in diesem Augenblick legten sich zwei heiße, weiche Hände beschwörend um seine Linke.

Jutta hatte sich bis dahin, starr vor Entsetzen, in eine dunkle

Fensternische gedrückt. Der Mann dort mit der königlichen unanfechtbaren Haltung war der gefürchtete, allmächtige Minister des

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 49. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_049.jpg&oldid=- (Version vom 18.9.2021)