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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Landes. Sie hatte ihn nie gesehen, allein sie wußten daß ein Federstrich seiner Hand, ein Wort aus seinem Munde genügte, über das Wohl und Wehe Tausender, wie über das des Einzelnen unwiderruflich zu entscheiden; der constitutionellen Staatseinrichtung zum Hohn regierte er mit der ganzen Rücksichtslosigkeit und Energie des Selbstherrschers – und ihn wagte die alte blinde Frau von ihrer Schwelle zu weisen, ihn überschüttete sie mit den bittersten Schmähungen, die er ruhig und hoheitsvoll hinnahm, so lange sie ihm persönlich galten! Alle Gefühle des jungen Mädchens empörten sich gegen die Mutter; es fiel ihr nicht ein, zu erwägen, inwiefern die leidenschaftliche alte Frau in ihrem Rechte sein könne – für gewisse Naturen sind die Mächtigen stets in ihrem Recht, sie bekämpfen jede Auflehnung dagegen meist mit Erbitterung als das Unrecht, und daß diese Naturen in der Mehrzahl sind, beweist uns die Weltgeschichte schlagend in der oft bis zur äußersten Grenze gehenden Duldsamkeit der Völker.

Diesem Zuge folgte denn auch die junge Dame, indem sie aus ihrer Ecke huschte und die Hand des beleidigten Mannes erfaßte. Welch’ ein verführerischer Zauber ergoß sich über die jugendliche Gestalt, als sie, das ideal schöne Haupt in den Nacken zurückgeworfen, angstvoll zu dem Geschmähten aussah und seine Hand flehend gegen ihre Brust zog! … Die gehobene Rechte des Ministers sank bei dieser Berührung sofort nieder, er wandte den Kopf und hob die langen, schläfrigen Lider – welch ein Blick! … Er fiel wie ein Feuerregen in die Seele des jungen Mädchens. Diese gluthvollen, für einen Moment völlig entschleierten Augen mit einem räthselhaften Ausdruck fest auf das erglühende Mädchengesicht geheftet, lächelte Baron Fleury und zog langsam die bebenden kleinen, weißen Hände an seine Lippen.

Und daneben saß die blinde Mutter und erwartete in athemloser Spannung eine erbitterte Antwort, einen endlichen Ausbruch der Gereiztheit und mit ihm die Genugthuung, ihren Todfeind verwundet zu haben – umsonst, nicht ein Wort erfolgte, und er stand doch neben ihr, sie hörte, wie er sich bewegte, ja, sie hatte soeben mit Abscheu seinen über ihr Gesicht hinwehenden Athem gefühlt – dieses beharrliche, verächtliche Schweigen versetzte sie in eine unglaubliche Aufregung.

„Ja, ja, die Fleury haben die Macht des Wechsels in seiner ganzen Höhe und Tiefe durchgekostet!“ hob sie nach einer momentanen Pause bitter auflachend wieder an. „Durch viele Generationen hindurch werden sie zu Denen gezählt, die mittels aristokratischer Fußtritte und Peitschenhiebe das französische Volk allmählich zur Revolution getrieben haben. … Und nach so viel Grausamkeit und unzerstörbarem Uebermuth feige Flucht über den Rhein! Und der letzte gerettete Rest des Vermögens, alle am Hofe zu Versailles gelernte Beredsamkeit wird aufgeboten, um das Nachbarvolk gegen die eigene Nation zu hetzen – fremde Hände sollten das Opfer knebeln und binden, damit es wieder geduldig und widerstandslos zu den Füßen der Herren liege – Schmach über diese edlen Patrioten!“ –

„Bleiben Sie bei der Sache, gnädige Frau!“ unterbrach der Minister die Sprechende mit kalter Ruhe. „Ich habe Ihnen Zeit und Muße gelassen, einen persönlichen Haß, den Sie gegen mich zu hegen scheinen, zu motiviren – statt dessen verirren Sie sich auf das Gebiet kleinlicher Rache, indem Sie meine schuldlose Familie schmähen. … Wollen Sie die Gewogenheit haben, nur zu erklären, was Sie berechtigt, eine solche Sprache gegen mich zu führen!“

„Gerechter Gott, er fragt auch noch!“ schrie die Blinde aus. „Als ob es nicht seine Hand gewesen wäre, die geholfen hat, den Unglücklichen in den Abgrund hinabzustoßen!“ Sie suchte sich zu bezwingen. Tief Athem schöpfend und den siechen Körper noch einmal gewaltsam aufrichtend, hob und senkte sie die ausgestreckte Rechte mit einer fast feierlichen Bewegung und fuhr fort.

„Leugnen Sie denn, daß das Vermögen der Zweiflingen auf dem grünen Tisch zerschmolzen ist, dem Seine Excellenz, der jetzige Minister, einst präsidirte! … Leugnen Sie, daß der Reitknecht des Baron Fleury heimlich jenem Verblendeten die Billetdoux der Gräfin Völdern überbrachte, wenn er, bewegt durch die inständigen Bitten und namenlosen Leiden seiner unglücklichen Frau, Miene machte, den Weg der Treulosigkeit und des Verderbens zu verlassen! … Leugnen Sie, daß er einen frühen Tod finden mußte, weil er die Ehre verloren und zu spät seine Verführer erkannte! … Leugnen Sie dies Alles – Sie haben die Stirn dazu, und eine Anzahl feiger Seelen wird es dem allmächtigen Minister nachbeten; aber ich, ich klage Sie an mit meinem letzten Athemzug, – und es giebt einen Gott im Himmel!“

Wohl waren die weißen Wangen des Ministers um einen Schein fahler geworden, aber das war auch das einzige Anzeichen innerer Bewegung. Die Lider lagen längst wieder über den Augen und machten sie glanzlos und undurchdringlich mit der schlanken, feingegliederten Hand nachlässig über den glänzend schwarzen Kinnbart gleitend, machte er weit eher den Eindruck, als höre er den ermüdenden Bericht eines Bittstellers, nicht aber eine so furchtbare Anklage.

„Sie sind krank, gnädige Frau,“ sagte er so mild, als spräche er zu einem Kinde, während sie erschöpft schwieg; „dieser Umstand entschuldigt Ihre maßlose Bitterkeit in meinen Augen vollständig – ich werde sie zu vergessen suchen. … Es würde mir ein leichtes sein, Ihre Beschuldigungen sofort schlagend zu widerlegen und Vieles, was da geschehen sein mag, auf die eigentliche Quelle, die schrankenloseste weibliche Eifersucht, zurückzuführen“ – bei den letzten, mit großem Nachdruck betonten Worten verschärfte sich seine sonore Stimme und wurde spitz wie ein Dolch – „allein nichts wird mich vermögen, im Beisein dieser jungen Dame hier Dinge zu erörtern, die ihr kindliches Gefühl schwer verletzen dürften.“

Die Blinde stieß ein bitteres Hohngelächter aus.

„O welche Zartheit!“ rief sie. „Ich mache Ihnen mein Compliment für diese brillante diplomatische Wendung!“ fügte sie schneidend hinzu. „Uebrigens sprechen Sie ohne Scheu – was Sie auch vorbringen mögen, es wird immer geeignet sein, häßliche Schlaglichter auf jene Sphäre zu werfen, welche eben diese junge Dame hier in ihren kindischen Träumen ‚das Paradies‘ zu nennen pflegt … ein Paradies – diese trügerische Decke über bodenlosen Abgründen! … Mit dem letzten Rest von Energie und Kraft, der meiner gebrochenen Seele geblieben ist, habe ich dies Kind dem Boden, dem es durch die Geburt angehört, entfremdet, ja, entrissen, in treuer Fürsorge um sein Glück, aber auch – aus Rache für mich! … Die letzte Zweiflingen tritt in bürgerliche Verhältnis, wo ich weiß, daß man sie auf Händen trägt, aber die Welt wird auch sagen: ‚da seht, welch’ elender Schemen der Nimbus des Namens ist, wenn der Besitz fehlt!‘ – ein willkommener Beleg für die moderne Anschauungsweise, welche einen Stein nach dem anderen aus dem Fundament der Aristokratie reißt!“

Sie brach zusammen.

„Und nun entfernen Sie sich!“ gebot sie mit erlöschender Stimme. „Es würde der bitterste Schluß meines zertretenen Lebens sein, wenn ich verurtheilt wäre – in Ihrer Gegenwart zu sterben!“

Einen Moment noch blieb der Minister zögernd stehen, allein es breitete sich ein Etwas über das aschfarbene Gesicht der Kranken, das, wenn auch oft in seinen Anfängen noch unverstanden, doch der Umgebung eine unwillkürliche Scheu einflößt: das Siegel des Todes! … Während Jutta, einen gewöhnlichen Krampfanfall der Leidenden voraussetzend, mit zitternden Händen Medicin in einen Löffel goß, schritt Baron Fleury geräuschlos nach der Thür. Auf der Schwelle blieb er stehen und wandte den Kopf zurück nach dem jungen Mädchen – noch einmal begegneten sich die vier Augen – Jutta ließ erbebend den Löffel sinken und die dunklen Arzneitropfen ergossen sich über das weiße Tischtuch. … Der Mann dort an der Thür lächelte und verschwand. Auch draußen über die hallenden Steinfließen glitt sein erst so fest und gebieterisch auftretender Fuß fast unhörbar. Er schritt nicht nach der Hausthür, über deren Schwelle die Herrin des Waldhauses unerbittlich ihn verwiesen hatte – der Sturm heulte grimmiger als je da draußen und rüttelte an den eichenen Bohlen der Thür, als verlange er ein heraustretendes Opfer, um es zerschmetternd gegen die Stämme der Wäldbäume schleudern zu können. … Der Minister wartete in Sievert’s wohlgeheizter Stube, bis der alte Soldat, der bei den Pferden geblieben war, zurückkehrte. Mit ihm kamen einige Lakaien aus Arnsberg; sie trugen große Laternen, um vorausschreitend die schmale, gefahrvolle Waldstraße zu erhellen, mittels frischer Pferde hatte man den Wagen bereits aus den Geleisen gehoben, – und fünf Minuten später lag das ungastliche Haus wieder einsam und verlassen inmitten der brausenden Waldwipfel. …

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_050.jpg&oldid=- (Version vom 18.9.2021)