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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)


sind, wenn sie von Feuilletonisten beurtheilt werden, die von einem neuen Lustspiel zu sprechen vermögen, ohne sich davon immerfort an Aristophanes, von einer Tragödie, ohne sich an Sophokles erinnern zu lassen. Ja ich gestehe Ihnen, diese Schulfuchserei eines gewissen vornehmen Recensententhums ist in Deutschland nicht nur unerträglich für die Personen, die schreiben, sondern sogar in hohem Grade verderblich für die Sache. Dennoch ist es so schön, in unserm besseren literarischen Leben immer jene ehernen Tafeln aufgehängt zu erblicken, die in unserm ganzen Streben und Sein, auch im politischen, auf jenen Wolkenhöhen ersichtlich thronen, von welchen sie zuweilen, wie Schiller gesagt hat, der Mensch mit Riesenarmen herunterlangt, wenn ihm die Tyrannei hienieden menschliches und göttliches Recht auch allzulange verweigern will. Ich vermisse in allen Literaturen, außer der deutschen, diesen hohen Flug des Gedankens, diese stete Bezüglichkeit des gegebenen Einzelnen auf ein Allgemeines, diese Einreihung der individuellen Kraft in die große Gesammtaufgabe einer nationalen Kunst- und Literaturgeschichte überhaupt. Vergleichen Sie nur die, bei Vielem, was sich rügen ließe, so würdige Arbeit unsres Gervinus über Shakespeare mit einem jener Cours d’histoire littéraire der Franzosen z. B. selbst von einem Villemain! Kann man sich des Lachens erwehren über die aufgeputzte Darstellung, über das Herauskehren alles dessen, was lediglich auf die Phantasie wirken soll, lediglich dem Reiz der Anekdote entspricht? Muß man nicht bald ein Buch zur Seite legen, wo man im Texte lesen kann (meistens sind diese Literaturgeschichten Nachschriften von gehaltenen Vorlesungen): „Rires“ oder „Applaudissemens“? Der Nachschreiber hat nämlich die Stellen bezeichnet, wenn aus der Sorbonne, wo der Redner sprach, eine Pikanterie über Ariost Gelächter, eine Tirade über Dante Händeklatschen hervorbrachte.

Was ist das Schöne? Diese Frage beschäftigt noch immer unsre Philosophie, und gerne möchte ich Ihnen den gegenwärtigen Stand der Discussion darüber schildern. Es soll im Nächsten geschehen. Heute sage ich Ihnen nur, daß ein alter Freund ihres Bruders, Professor Lazarus in Berlin, kürzlich diese Frage, ganz wie Columbus die Frage über das aufrechte Hinstellen eines Eis, dahin beantwortet hat, daß sich ihre Lösung von selbst verstünde. Das Schöne brauche nicht definirt zu werden. Jeder wisse eben schon von selbst, was schön sei. Allerdings fiel mir dabei ein, daß ich unsern gemeinschaftlichen Freund Ferdinand Hiller einst im Interesse einer mit mir zu Grabe gehenden, hienieden unentdeckt gebliebenen Tenorstimme über die beste Art der Tonbildung um Belehrung ersuchte und die Antwort erhielt: „Bilden Sie den Ton so, daß er sich angenehm hören läßt!“ Und einen Herrn W. aus Mainz, einen Weinreisenden, der mich manches Jahr hindurch „zu meiner Zufriedenheit bediente“, fragte ich einst gelegentlich: „Geben Sie mir, Bester, die vollkommenen Merkmale eines guten, unverfälschten Weines!“ Worauf er, durchaus wie Hiller über die Tonbildung und Lazarus über das Schöne, erwiderte: „Wein müssen Sie so trinken können, daß er Ihnen auf der Zunge keine Störung verursacht!“ Aber – dennoch habe ich das alte Vorurtheil, doch für eine genauere Definition des Begriffes „Schön“ zu sein, und werde ihnen in meinem Nächsten darüber Mancherlei, auch von Herrn von Kirchmann’s neuer Aesthetik erzählen.

So sind wir denn mit dem Begriff des guten Weines wieder angekommen in - Mainz, wieder bei unsrer Begegnung auf dem herrlichen Rheinstrom in diesem verflossenen unvergleichlichen Sonnenjahr 68. Für heute breche ich ab und bin mit dem Ausdruck all’ jener Hochachtung, von welcher Sie wissen, daß etc. etc. Kesselstadt bei Hanau, den 2. Januar 1869.




Die Sprache des Gesichts.

Was man dem Menschen schon Alles an der Nase ansehen kann, ist unlängst in der Gartenlaube durch Wort und Bild gezeigt worden. Aber dieser Lungenschornstein ist nur der unbewegliche Thurm in der Gemeinde von Gliedern, körperlichen und geistigen Kräften, welche zusammen den gesellschaftlichen Freistaat eines menschlichen Wesens bilden. Viel mehr und fast Alles, was im Innern des Menschen verhandelt wird, sehen wir ihm in dem beweglichen Gesicht an. Die Muskeln desselben, welche unter der Haut wie eine sonderbare Maschinerie von Strähnen und Zügen, von elektrischen Batterien und Drähten vertheilt sind, dienen den von außen wirkenden Eindrücken, Gefühlen und Leidenschaften als elektro-telegraphische Apparate, durch welche ganz leserliche Zeichen auf dem Gesicht ausgeprägt werden.

Das Verständniß dieser Zeichensprache, seit Jahrhunderten von den besten Gelehrten vergebens gesucht oder ganz und gar geleugnet, ist auch jetzt noch sehr neu und unvollständig, aber sie wird endlich sicherlich ebenso gut entziffert werden, wie die ägyptischen Hieroglyphen und die Keilschrift. Etwas davon verstand und versteht jeder Mensch, am meisten freilich die Kinder. Es ist uns Allen geläufig, von einem finsteren und heiteren Gesicht, von lachenden Augen, trägem, lebhaftem, festem, sanftem, unstetem, verstecktem, entzücktem, verrücktem, bösem und tückischem Blick, finsterem Stirnrunzeln, Kainstempeln, sauren Mienen, bitterem Ausdruck, süßem Lächeln, weinerlichem, sauersüßem Munde, gepreßten oder gekniffenen Lippen etc. zu sprechen, womit wir also unwillkürlich zugeben, daß alle Theile des Gesichts durch ihre verschiedenen Bewegungen und Stellungen zu einander eine Zeichensprache bilden und wir sie auch verstehen und übersetzen können.

Talleyrand, der da sprach, um seine Gedanken zu verbergen, schloß beim Reden die Augen, damit ihn diese nicht verriethen; hörte er aber einem anderen Diplomaten zu, so heftete er seinen scharfen Blick fest auf dessen Gesicht und verließ sich blos auf die physioginomische Sprache, welche auch der geübteste und listigste Lügner und Heuchler nicht verwirren oder ganz verwischen kann. Und doch leugnete noch der berühmte Physiolog Johannes Müller die Beziehungen der Gesichtsmuskeln zu den inneren Gefühlen und Leidenschaften! Lavater hatte für ihn umsonst den Grund zur Deutung der Gesichtssprache gelegt, obwohl dieser den Menschen mehr nach seinem festen Kopf- und Gesichtsgepräge, als nach den lebendigen telegraphieren Zeichen der Mimik beurtheilte.

Erst Oken suchte der sogenannten Physiognomik einen wissenschaftlichen Halt zu geben. Er nahm an, daß die Knochen und Muskeln des Kopfes gleichsam zu Kopfe gestiegene Glieder des Körpers seien und der Schädel eine erweiterte Wirbelsäule. Das Mienenspiel ist ihm nur eine Wiederholung der Gliederbewegungen und der Leidenschaften, welche durch diese ausgedrückt werden. Schiller nannte dies eine Idee, welche Goethe durch seine Metamorphose der Pflanzen von der Fauna auf die Flora übertrug.

Auf Oken’s Grundlage baute nun neuerdings ein Dr. Piderit sein wissenschaftliches System der Mimik und Physiognomik auf.[1] Das ist wirklich ein ordentliches ABC-Buch der allen Menschen gemeinsamen stummen Universalzeichensprache des Geistes im Gesicht. Er giebt auch genau an, wie diese Zeichen durch die elektro-telegraphischen Apparate der Muskeln entstehen, je nachdem die verschiedenen Gefühle und Leidenschaften darauf drücken und spielen. Wir sehen förmlich in Wort und Bild, wie sie dies bewerkstelligen. Welch’ eine unendliche Masse von Worten und Sätzen dadurch entstehen, macht er selbst durch ein musikalisches Bild anschaulich. Wie nämlich aus den sieben ganzen und fünf halben Tönen der musikalischen Octave unendliche Verbindungen zu Melodien und Harmonien componirt werden, so bilden auch diese beweglichen Gesichtszüge aus ihren einfachen Sätzen und Stellungen eine unbegrenzte stumme Musik oder vielmehr Notenzeichen der durch Gefühle und Leidenschaften in Schwingungen versetzten Nerven und Muskeln. Sehr wichtig hierbei ist die Grundwahrheit, daß körperliche und geistige Bewegungen, sinnliche oder blos eingebildete Sinneseindrücke ähnliche Wirkungen hervorbringen. So erzeugen z. B. anhaltende Anstrengungen sowohl körperlicher als geistiger Art jenen verbissenen Zug des Mundes und die senkrechten Stirnfalten (Figur 32), die man ebenso auf den Gesichtern von Schmieden, Lastträgern und Bauern, wie in den Physiognomien von Verbrechern, Trotzköpfen und erhabenen Philosophen finden kann. Bei ersteren spannen sich die Muskeln der Kinnladen und Augenbrauen

  1. Wissenschaftliches System der Mimik und Physiognomik von Dr. Theodor Piderit. Mit vierundneunzig photolithographischen Abbildungen. Detmold, Klingenberg’sche Buchhandlung 1867.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 74. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_074.jpg&oldid=- (Version vom 2.2.2022)