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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

durch entsprechende Thätigkeit der Arme und Beine, bei letzteren durch leidenschaftliche oder geistige Gespanntheit. Auch kann Niemand einen großen Schritt oder Sprung machen, ohne Augen und Gesicht zu erweitern, wie sich auch bei geistigen Sprüngen, genialen Einfällen Augen und Muskeln gleichsam aufthun.

Sokrates sagt: „Rede, damit ich Dich sehe!“ und Jesus Sirach: „Der Vernünftige merkt den Mann an seinen Geberden.“ Man muß also etwas Weisheit und Vernunft, kurz eine Wissenschaft, ein Studium daraus machen, die Gesichtssprache zu verstehen. Bei diesem Studium aber, dem Ablesen von der telegraphischen Scheibe des Gesichts, müssen wir uns erstens an sichere Zeichen, zweitens an solche Gesichter halten, die nicht durch äußerliche Zuthaten und sonstige Entstellungen das Lesen erschweren oder unmöglich machen. Sichere Zeichen sind die anatomisch genau erklärten und in Abbildungen gegebenen Grundzüge Piderit's. Durch diese lernen wir zunächst buchstabiren und dann erst allmählich die unendliche Mannigfaltigkeit von zusammengesetzten Worten lesen.

Wir wählen hier die beiden bekanntesten Grundzüge des menschlichen Gesichts, zugleich die wesentlichen Vorzüge vor allen Thieren aus, nämlich das Lachen und Weinen, weil wir hier zugleich der Lösung eines der tiefsten Räthsel des menschlichen Herzens und Gesichts auf die Spur kommen. Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt und vom Lachen zum Weinen nur ein Strich, ein „Knick“. Die Gesichter Figur 1 und 2 sehen wie Zwillingsbrüder aus, und doch stellt das eine vollendetes Lachen, das andere entschiedenes Weinen dar. Worin liegt der Unterschied? Die höchste Lust kann tödtlich werden, wie es auch sprüchwörtlich heißt, daß etwas zum Todtlachen sei. Die höchste Erregung der Lust verwandelt sich in einen peinvolle Krampf, der die Augenbraue zusammenzieht, wie der bitterste Schmerz (Figur 1).

Figur 1.

Umgekehrt verschafft der Weinkrampf, der bekanntlich oft zugleich ein Lachkrampf ist, dem Leidenden Linderung, so daß sich die schmerzvollen Züge mit Thränen auf den Backen erheitern, wie eine Landschaft mit tropfenden Bäumen, wenn hinter dem abziehenden Gewitter die Sonne hervortritt und herablächelt, und also die äußerste Grenze von Lust und Schmerz in ihrem mimischen Ausdruck selbst bis auf die Thränen unmittelbar nebeneinander liegen. Thiere können weder lachen noch weinen. Thränen sind Perlen unseres Gemüths, Diademe des königlichen Geschlechts auf der Erde. Sie entspringen aus einem reiz-, geist- und lebensvollen Hirn, für dessen überfluthende Thätigkeit die Thränendrüsen einen Abzugscanal bilden. Es giebt kein größeres Leid, keinen gefährlicheren Schmerz als den, welcher im trockenen Auge brennt und nicht durch lindernde Thränen abgeleitet wird. Solches Elend endet oft mit Tod oder Wahnsinn.

Figur 2.

Den Thränendrüsen, als dem Ventile des empfindlichen Gehirns, entspricht das Zwerchfell, die Trommel unserer Lungen, beim Lachen. Lachen und Schluchzen erhalten die Herzens- und Athmungsmusik des Lebens in wohlthätiger Bewegung. Die Erklärung für die Einheit des Lachens und Weinens liegt in physiologischen und philosophischen Tiefen, welche wissenschaftlich noch nicht ergründet sind. Nur dem scharfen Denker Dr. Arnold Ruge ist es in seinem Buche über das Komische gelungen, das Wesen des Lächerlichen wissenschaftlich darzustellen, aber die körperlichen Processe beim Lachen und Weinen verlieren sich noch jenseits der Grenzen der Physiologie. Wir wissen nur, daß die Thränen des Schmerzes durch das Gehirn und die des Lachens durch das Zwerchfell ausgepreßt werden. Die Kämpfe und Krämpfe des Körpers in höchster Lust und Traurigkeit gehen aus einem überwältigenden Gefühl oder Bewußtsein von gleichsam zusammenblitzenden Widersprüchen oder Gegensätzen hervor. Die Wirkungen dieses Blitzes sind in beiden Fällen Erschütterungen und Entstellungen des Gesichts ganz gleicher Art, nur mit einem einzigen unterscheidenden Zuge, so daß man wirklich, wie es Rubens oder Raphael gethan haben sollen, mit einem Striche ein lachendes in ein weinendes Gesicht verwandeln kann.

Welches von den beiden Gesichtern, Figur 1 und 2 lacht, und welches weint? Auf den ersten Anblick giebt wohl selten Jemand gleich die richtige Antwort. Nur wenn wir die obere Hälfte beider Gesichter, die sich ganz gleich sind, bedecken, finden wir wohl in dem unteren den Unterschied des entschiedenen Lachens und Weinens und sagen, daß Figur 1 lache und um den Mund von Figur 2 der Zug des weinenden Schmerzes gezogen sei. Dessenungeachtet wird es uns ohne Hülfe des Dr. Piderit schwer werden, genau zu sagen, worin der Unterschied des lachenden und des weinenden Gesichtes stecke. Er sagt nämlich, daß man beim entschiedenen Lachen und Weinen genau dasselbe Gesicht nur mit dem einzigen Unterschiede mache, daß beim letzteren die Nasenflügel durch zwei kleine Muskeln in der Oberlippe grade unter den Nasenlöchern abwärts gezogen werden, wodurch die Mundfalten von der Mitte der Nasenflügel an nach unten scharf eingeknickt erscheinen, während diese Falten beim Lachen von den Nasenflügeln bogenförmig nach dem Munde herab verlaufen. Also dieser scharfe Knick an der Mitte der Nasenflügel macht den ganzen Unterschied. Zerknicktes Lachen ist Weinen. Man sagt deshalb auch von Kindern und sonstigen empfänglichen Naturen im gemeinen Leben nicht mit Unrecht, daß sie Lachen und Weinen in einem Sacke haben.

Dies ist die physiognomische Pointe des Unterschiedes zwischen Lachen und Weinen; aber das Gemüth und Gefühl kann mit diesem Grenzstrich wie Paganini auf einer einzigen Saite die zauberhafteste Musik der Freuden und Schmerzen spielen. Wie unendlich verschieden kann der Mensch lachen und weinen!

In der Regel lacht man nur wirklich bei guter Gesundheit über gute komische Scenen oder Witze. Was ist komisch? Was ist ein Witz? Ein im Bewußtsein zusammenblitzender Widerspruch, der in das Zwerchfell einschlägt, so daß es hinterher donnert. Dieser Widerspruch gleicht sich dadurch aus, wie zwei entgegengesetzte Elektricitäten beim Gewitter. Der einschlagende Blitz kitzelt bei Ausgleichung vom Zwerchfell aus das ganze Nerven- und Muskelsystem und wirkt daher ebenso wohlthätig auf Erheiterung und Befruchtung des Geistes, wie ein Gewitter auf Feld und Flur.

Beim Lachen wie beim Weinen braucht man viel Luft und muß deshalb den Mund öffnen und sogar breit ziehen. Die krampfhafte Athmungsexeplosionen dabei verlangen die weitesten und freiesten Luftwege. Schon bei der geringsten Veranlassung zum Lachen oder Weinen bereitet sich der Mund darauf vor. Das Kind macht als Vorbereitung zum Weinen eine „Schippe“, und der leiseste Kitzel im Zwerchfell zieht die Mundmuskeln so zurück, daß sich die allerliebsten Grübchen in den Wangen der Jugend bilden, in denen Amor und die Grazien so gern Versteck spielen. Diese Grübchen werden durch heftiges Lachen zu Falten und selbst Krähenfüßen zusammengepreßt. Das bloße Lächeln mit oder ohne Grübchen ist schon allein der verschiedensten Melodien und Disharmonien fähig. Mit verstecktem Blick wird es oft schelmisch und gedeiht dann ganz besonders auf den Wangen junger Damen mit Grübchen und weißen Zähnen. Das entzückte Lächeln kann je nach der Richtung des Blicks das Gesicht einer Madonna verklären, aber auch den Anbeter selbst im Ballsaal wegen seines

vorbereiteten Antrages zurückschrecken, wenn es sich in Folge einer

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 75. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_075.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)