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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

streng verboten. Sie kreuzte die Hände wie ein Professor auf dem Rücken und sah dem Treiben der andere Kinder ernsthaft zu. Der „Dicke“ saß auf einem grellroth angestrichenen Gaul und rollte unter Hü und Hott durch die Stube.

„Das ist ein sehr häßliches Pferd!“ sagte Gisela, als er an ihr vorübersauste.

Der begeisterte Reiter hielt erbost inne.

„Es ist nichts häßlich, was Einem das Christkindchen bringt,“ entgegnete er tief empört – sein kleines Herz war ja voll unsäglicher Dankbarkeit gegen das Christkindchen.

„Wirkliche Pferde sind gar nicht so roth und haben auch niemals solch steife Schwänze,“ kritisirte das kleine Mädchen unbeirrt weiter. „Ich will Dir lieber meinen Elephanten schenken – der läuft von selber durch’s Zimmer, wenn man ihn mit dem Schlüssel aufzieht; eine Prinzessin sitzt d’rauf, die nicht mit dem Kopfe –“

„So, eine Prinzessin sitzt d’rauf?“ unterbrach sie der „Dicke“ überlegen. „Wo sitze ich denn nachher? … Da ist mir mein Gaul doch viel lieber – ich will Deinen alten Elephanten gar nicht!“

Damit rollte er peitschenknallend weiter. Gisela sah ihm betreten nach. Sie war gewohnt, daß die Dienerschaft nach ihren Händen haschte und sie zu küssen versuchte, wenn sie Geschenke austheilte, und hier wurde sie so schnöde zurückgewiesen. Noch mehr aber empörte es sie, daß der Junge den „schauderhaften“ Gaul so beharrlich schön fand. Sie warf einen Blick auf ihre Gouvernante, allein die war in ein Gespräch mit Jutta vertieft und führte eben mißtrauisch langsam die Theetasse an die Lippen, um sie sofort mit einem leisen Schauder wieder hinzustellen.

Das seltsame Kind, das so wenig die Gabe besaß, sich anzuschließen, stand einsam inmitten des Weihnachtsjubels; seine Abneigung gegen die Puppenwelt ließ es jene Ecke fliehen, wo zwei kleine Mädchen ein dickköpfiges Wickelkind fütterten, und vom „Dicken“ war ja der einzige Annäherungsversuch so classisch abgefertigt worden. … Aber dort an einem Seitentisch, aus welchem heute ausnahmsweise auch ein Licht brannte, stand der Erstgeborne des Hauses, ein ungefähr neunjähriger Knabe, und neben ihm die Schwester, die ihm im Alter folgte. Beide lasen eifrig, Alles um sich vergessend, in einem Buche. Auf den fleckenlos sauberen Tisch hatte das kleine Mädchen sein schneeweißes Taschentuch gebreitet, und erst auf diesem lag das Buch wie ein Allerheiligstes; die Kinder wagten kaum mit den äußerste Fingerspitzen die neuen Blätter umzuwenden – es waren die Grimm’schen Märchen, die der Vater unter den Christbaum gelegt hatte.

„Die Sternthaler,“ las der Knabe mit halblauter Stimme. „Es war einmal ein kleines Mädchen“ – mit zwei Schritten stand Gisela neben ihm, der Anfang klang zu verlockend. Sie verstand schon fließend zu lesen, und eine so eigentümlich grübelnde Richtung auch die Geisteskräfte dieses noch so jungen Wesens bereits annahmen – die Märchenwelt mit ihren nicht zu begründenden Wundern übte deswegen doch ihren ganzen bestrickenden Zauber auch auf diese Kinderseele.

„Gieb mir das Buch lieber in die Hand, ich will vorlesen,“ sagte Gisela zu dem Knaben, nachdem sie, auf den Zehen stehend, vergebens versucht hatte, einen Einblick in das Buch zu gewinnen.

„Das thu’ ich nicht gern,“ antwortete er und fuhr sich verlegen mit der Hand in die blonden Kraushaare. „Der Papa will mir morgen erst den schönen Einband in einen Papierbogen schlagen –“

„Ich werde ihn nicht verderben,“ unterbrach ihn die Kleine ungeduldig. „Gieb das Buch her!“ Sie streckte die Hand aus. In dieser sehr herrischen Geberde lag die ganze Zuversicht des verwöhnten vornehmen Kindes, das einen directen Widerspruch gar nicht kennt.

Der Knabe maß die kleine Gestalt mit sehr erstaunten Blicken.

„Oho, so geschwinde geht das nicht!“ rief er abwehrend. Als Aeltester der Kinderschaar war er den Eltern bereits eine Stütze bei Erziehung seiner Geschwister. Er hatte die Aufgabe, leuchtendes Vorbild zu sein, und dies Ehrenamt voll märthyrhafter Selbstverleugnung gab ihm sehr viel äußere Würde. … Er schlug das Taschentuch schützend um den Einband des Buches und nahm es auf.

„Nun, meinetwegen, Du sollst es haben,“ sagte er ernsthaft, "aber Du mußt auch hübsch artig sein und bitten – alle Kinder müssen bitten.“

War die Kleine bereits gereizt durch die Scene mit dem „Dicken“, oder bekam das Bewußtsein ihrer hohen Lebensstellung in diesem Augenblick wirklich die Oberhand in ihr – genug, aus den schönen, rehbraunen Augen funkelte ein maßloser Hochmuth, und dem Knaben den Rücken wendend, sagte sie verächtlich. „Das brauche ich nicht!“

Die Wirkung dieser Worte war eine große. Der eben vorüber rollende Reiter hielt seinen Gaul an – wenn auch selbst mit einer bedeutenden Dosis Trotz begabt, ging ihm diese unerhörte Antwort denn doch über den Spaß – und die zwei kleinen Ziehmütterchen ließen ihr hülfloses Wickelkind in der Ecke liegen und kamen schleunigst herbei, um mit großen, weitgeöffneten Augen „das ungezogene Mädchen“ anzustarren – Alle aber wiederholten wie aus einem Munde: „Alle Kinder müssen bitten!“

Dieses Unisono schreckte auch Frau von Herbeck plötzlich aus ihrem Zwiegespräch mit Jutta auf. Das, was die Kinder riefen, und die feindselige Haltung ihrer Schutzbefohlenen ließen sie sofort begreifen, was vorgegangen war; mit einer so erschrockenen Hast, als sähe sie das gräfliche Kind bereits über einem Abgrund schweben, erhob sie sich und rief hinüber „Gisela, mein Kind, ich bitte Dich, komme sofort zu mir!“

In diesem Augenblick trat die Pfarrerin, die Fritzchen zu Bett gebracht hatte, in’s Zimmer.

„Sie will nicht bitten, Mama!“ riefen ihr die Kinder entgegen und zeigten auf Gisela, die noch unbeweglich mitten im Zimmer stand.

„Nein, ich will auch nicht!“ wiederholte sie, aber diesmal klang ihre Stimme bei weitem nicht mehr so hart und sicher den scharfen, klugen Augen der Pfarrerin gegenüber. „Die Großmama hat gesagt, das schicke sich nicht für mich – nur den Papa darf ich bitten, alle Andere nicht, auch Frau von Herbeck nicht!“

„Sollte die Großmama das wirklich gesagt haben?“ frug die Pfarrerin ernst liebevoll, indem sie das Köpfchen der kleinen Widerspenstigen zurückbog und voll in das trotzige Antlitz sah.

„Ich kann Ihnen versichern, meine beste Frau Pfarrerin, daß dies die unumstößliche Willensmeinung der hochseligen Frau Gräfin allerdings gewesen ist,“ antwortete Frau von Herbeck an Stelle des Kindes mit unbeschreiblicher Impertinenz, „und ich sollte meinen, Niemand habe wohl mehr Recht zu derartigen Erziehungsmaßregeln gehabt, als gerade sie in ihrer erlauchten Stellung! … Uebrigens möchte ich ihnen – lediglich im Interesse ihrer Kleinen selbst – den wohlgemeinten Rath geben, ihnen doch ein wenig klar zu machen, daß sie in der kleinen Reichsgräfin Sturm denn doch etwas ganz Anderes zu sehen haben, als in Hinz und Kunz, mit denen sie für gewöhnlich verkehren mögen.“

Ohne eine Silbe auf diesen „wohlgemeinten Rath“ zu erwidern, forderte die Pfarrerin ihren Aeltesten auf, den Hergang zu erzählen.

„Du mußtest zuvorkommender sein,“ sagte sie verweisend, als er geendet hatte, „und der kleinen Gisela das Buch geben, sobald Du auch nur merktest, daß sie es wünschte – denn sie ist unser Gast, das durftest Du nicht vergessen, mein Sohn!“ Dann öffnete sie die Thür des Studirzimmers und hieß die Kinder eintreten, um dem Papa gute Nacht zu sagen. Der „Dicke“ schob sofort mit einem wehmüthigen Abschiedsblick, aber ohne Widerrede, seinen Gaul in die Ecke, die kleinen Mädchen hüllten ihr Wickelkind bis über die Nase in die warme Wiegendecke, und nach einem freundlichen „Gutenacht“ gegen die Damen schritten sie, nach Alter und Größe wie die Orgelpfeifen, über die Schwelle, um wenige Minuten darauf, unter Anführung der alten Rosamunde, nach der Schlafstube zu marschiren. Der kleinen Gräfin aber gab die Pfarrerin das Märchenbuch in die Hand, führte sie in die anstoßende, wohlgeheizte Kinderstube, deren Thür halbgeöffnet blieb, und kehrte dann zu ihren Gästen zurück.

„Ich bin Ihnen noch eine Antwort schuldig, gnädige Frau!“ sagte sie mit ihrer tiefen, kräftigen Stimme, während die klaren, blauen Augen tapfer den stechenden Blick der ihr gegenüberstehenden Dame aushielten. „Die kleinen, neugierigen Ohren sollten ihre weiteren Erklärungen nicht hören, weil sie meinen Erziehungmaßregeln

zuwiderlaufen – nicht wahr, dies Recht hat die bürgerliche

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 82. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_082.jpg&oldid=- (Version vom 15.12.2017)