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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Gräfin, die während der leidenschaftlichen Ergießungen ihrer Gouvernante ruhig Mantel und Capuze angelegt hatte, trat mit großer Lebhaftigkeit vor sie hin und sagte genau in dem trotzig entschiedenen Ton des Pfarrersohnes, der ihr trotz alledem jedenfalls imponirt hatte:

„O, so geschwind geht das nicht – ich werde jedenfalls wiederkommen!“

„Das wollen wir sehen, mein Kind!“ entgegnete Frau von Herbeck plötzlich sehr beherrscht – sie hatte offenbar in ihrer Aufregung die Anwesenheit des Kindes für einen Moment völlig außer Acht gelassen. „Papa soll einzig und allein entscheiden – Du kannst ja noch nicht beurtheilen, Engelchen, was für bittere Feinde Du in diesem Hause hast.“

Die Dame schlang ihre Arme um Jutta’s Schultern und zog die geschmeidige Gestalt fest an sich.

„Und nun hören Sie mich!“ flüsterte sie. „Der unerträgliche Kinderlärm, das entsetzliche Gebräu – Thee genannt – und die groben Speisen, die uns aufgenöthigt werden sollten, die Knasterwolken, die wahrhaft mephitisch aus jeder Thürritze der pfarrherrlichen Studirstube quollen und die Luft verpesteten – enfin, das ganze Heer von Widerwärtigkeiten, das wir heute in trauriger Gemeinschaft über uns ergehen lassen mußten, hat mir die Ueberzeugung aufgedrängt, daß Ihres Bleibens nicht länger in diesem Hause sein kann. So lange wenigstens, bis Sie ihren alten, herrlichen Namen mit dem bürgerlichen vertauschen, sollen Sie noch die Vorrechte und Annehmlichkeiten ihres Standes genießen. … Ich nehme Sie mit, und zwar auf der Stelle. Denen drunten machen wir vorläufig weis, daß Sie mich nur für die Feiertage besuchen – sonst kommen Sie nicht los. … Sie wohnen weder beim Minister, noch bei der kleinen Gräfin Sturm, sondern einzig bei mir, ich trete Ihnen zwei hübsche Zimmer meiner weitläufigen Appartements ab, und sollten Sie oder Ihr Herr Bräutigam Bedenken tragen, alles Uebrige ohne Weiteres in Schloß Armsberg anzunehmen, nun, so geben Sie doch Gisela Clavierunterricht – dann ist Alles ausgeglichen! … „Wollen Sie?“

Statt aller Antwort wand sich das junge Mädchen hastig aus Frau von Herbeck’s Armen, eilte in die anstoßende Kammer und kehrte nach wenigen Minuten, in einen engen, verwachsenen Mantel gehüllt, in die Stube zurück.

„Hier haben Sie mich!“ sagte sie mit strahlenden Augen.

Frau von Herbeck unterdrückte mit Mühe ein Lächeln über die wunderliche Figur, welche die junge Dame in dem engen, pressenden, unmodernen Kleidungsstück spielte. Sie befühlte die dünne Wattirung.

„Das Mäntelchen ist viel zu leicht. Bedenken Sie, daß wir in die eisige Nachtluft hinaus müssen!“ sagte sie, während sie den Mantel abstreifte und zu Boden fallen ließ. „Lena hat uns ja ein wahres Kleidermagazin geschickt!“ fuhr sie fort und zog aus dem Wust von Shawls und Mänteln, den der Bediente auf das Sopha gelegt hatte, einen mit Pelz besetzten, königsblauen Sammetüberwurf und eine Capuze aus weißem Cachemir. Diese weichen, kostbaren Umhüllungen legte sie eigenhändig um Kopf und Schultern des jungen Mädchens.

Nach wenig Minuten stand das traute Eckstübchen verlassen, und die Drei steigen die Treppe hinab, an deren Fuß Rosamunde mit der flackernden Küchenlampe stand. Das alte Mädchen ließ vor Erstaunen fast die Lampe fallen, als Jutta ihr näher kam – es war aber auch in der That ein wahrhaft blendender Anblick. Freilich fehlte diesem stolz zurückgeworfenen Haupt mit dem weißflockigen Diadem über der Stirn, dieser gebieterisch herabschreitenden Gestalt im übergeworfenen Sammetmantel augenblicklich all’ und jeder mädchenhafte Liebreiz – es schien, als sei er, mit dem alten Mäntelchen abgestreift, droben im Eckstübchen zurückgeblieben – dafür war die junge Dame aber auch vollkommen das, was sie sein wollten der stolze Abkömmling eines uralten, hochmüthigen Geschlechts!

Sie war eben im Begriff, sich an Rosamunde zu wenden, als aus dem tiefen Dunkel der weiten Hausflur plötzlich Sievert’s grauer Kopf auftauchte. Der Anblick dieses finster verbissenen Gesichts war wohl gerade in diesem Augenblick der am wenigsten wünschenswerte für die Flüchtige. In ihre Wangen trat die lebendige Röthe einer sehr unliebsamen Ueberraschung, aber die Züge versteinerten sich auch förmlich in dem Ausdruck unsäglichen Hochmuths – vergebens, der alte Soldat ließ sich dadurch weder verscheuchen, noch außer Fassung bringen, er trat vielmehr näher, während seine Augen feindselig höhnisch über die elegante Umhüllung der jungen Dante glitten.

„Der Hüttenmeister schickt mich –“ hob Sievert an.

(Fortsetzung folgt.)




Der russische Carneval.

Wie sich unter dem tiefblauesten Himmel Europa’s, in dem Lande, wo Petrarca seine Lieder sang, noch die Sitte erhalten hat, den Fleischspeisen in launiger Weise auf einige Zeit Lebewohl zu sagen, so begegnen wir auch im hohen Norden dem Volksgebrauche, die letzte Woche vor dem Beginn der großen Fasten, die sogenannte „Butterwoche“, durch tollen Uebermuth zu bezeichnen. Vom Weißen bis zum Schwarzen Meer, aus Rußlands unermeßlichen Ebenen, wird der Abschied von Allem, was zur Leibesnahrung vom Thiere kommt, durch öffentliche Belustigungen erheitert und dabei namentlich der Schaulust der unteren Gesellschaftsschichten genügt.

Turner-, Sänger-, Schützen- und andere Feste kennt man in Rurik’s Reich noch nicht, ebenso sind die im Sachsenlande so beliebten Vogelwiesenfeste noch nicht auf russischen Boden verpflanzt, aber Butterwoche und Osterfest werden würdig, oder vielmehr auf die bunteste Weise begangen. In den kleinen russischen Städten nimmt wohl die ganze Bevölkerung daran Theil, in der großen und stolzeren Hauptstadt aber lenkt nur der niedere Mann seine Schritte auf „die Berge“, wie man zu sagen pflegt, denn Eisberge zum Rutschen sind ein notwendiges Attribut der Butterwoche. Was aber dem uncultivirten Erwachsenen gefällt, das lockt auch Kinder aus den besseren Ständen an, und so strömen denn Schaaren von Wärterinnen mit ihren Pfleglingen den Bergen zu und mengen sich in das bunte Gewirr.

Schon mehrere Wochen vor dem Beginn der Butterwoche, oft bei der schneidendsten, bis zwanzig oder gar dreißig Grad gestiegenen Kälte sieht man auf dem schönsten und geräumigsten Platz der Kaiserstadt eine Menge Arbeiter hämmern und geschäftig hin- und hergehen. Der umfangreiche Platz wird von dem schlanken Admiraliätsthurm, dem kaiserlichen Winterpalais und dem schönen Generalstabsgebäude eingeschlossen und stößt unmittelbar an die zu Ehren Kaiser Alexander’s des Ersten errichtete Säule, den größten Monolithen Europa’s. Die übrigen Seitenflügel des großen Platzes bilden die durch eine Arcade verbundenen kolossalen Gebäude der heiligen Synode und des dirigirenden Senates, beides Schöpfungen des Tzaren Peter des Ersten. An der nördlichsten Seite dieses ausgedehnten Raumes erhebt sich die eherne Reiterstatue des großen politische Reformators Rußlands, und hinter derselben rollt der breite, schöne Newastrom dahin, der mächtige steinerne Quais bespült.

Das bunte Treiben mit seinen Caroussels, Schaukeln, Menagerien, Eßwaarenverkäufern und kochenden Theekesseln nimmt dabei nur einen Theil des Riesenplatzes ein, und es bleibt noch ein hinlänglicher Raum für Equipagen aller Art, in denen die wohlhabendere Welt in bequemster Weise dem Mummenschanze zuschaut und die verschiedensten einzelnen Bilder desselben langsam an sich vorüber ziehen läßt. Am amüsantesten sind für den Beschauer aus der Ferne die in Bauerntracht gekleideten Possenreißer, welche an der äußeren Balustrade der erhöhten Caroussels stehen und die sie umgebende Menge durch Witzworte belustigen. Schon von Weitem sind diese Volkskomiker, die übrigens Jahr aus Jahr ein dieselben Scherze wiederholen, mit denen sie jedoch nur

der Hefe des Volkes ein Lachen abzwingen, durch ungewöhnlich lange, falsche graue Bärte kenntlich, und wenn man hinzutritt und eine kleine Weile den Plaudereien des „Alten“, wie man den bezahlten Witzbold nennt, zuhört, so hat man an der kleinen Weile

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 84. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_084.jpg&oldid=- (Version vom 18.9.2021)