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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

fast unhörbar nach der Thür. Vater und Tochter schienen dies aber nicht zu beachten.

„Fränzchen!“ fuhr Schilberg fort, „Du machst mir große Sorge. Zum ersten Male ertappe ich Dich auf einem Unrecht. Sprich, Mädchen! Sieh’ meine Angst! Sei offen, sei wahr – nur keine Lüge, wenn ich –“

„Vater! lieber, guter Vater!“ schrie Fränzchen laut auf, „jetzt nicht, ich darf, ich kann nicht! Ja, Vater, ich habe Dir etwas zu verbergen, Du hast mir’s angesehen, aber ich versichere, es ist nichts Böses, es ist nichts, dessen ich mich zu schämen brauchte. Du wirst es erfahren, Vater, Du mußt es wissen, nur jetzt kann ich nicht reden, später –“

„Was? – Später?“ fiel Schilberg heftig ein. Und als auf diese Frage keine Antwort gegeben wurde, ließ der alte Mann den Kopf seines Kindes, den er bis dahin festgehalten hatte, rasch frei.

„Geh’,“ sagte er sich fortwendend, „nimm mit, was Du dort hingestellt hast, ich mag nichts, ich bedarf heute nichts, am wenigsten von Dir.“

Dies hörte ich ihn noch sagen, als ich die Thür hinter mir schloß. Ich hatte mich kaum einige Schritte von derselben entfernt, so kam Schilberg mir eilig nach. Fränzchen blieb allein in der Wachstube zurück. Wie lange sie sich noch darinnen aufgehalten hat, konnte später nicht ermittelt werden, es hatte kein Mensch sie fortgehen sehen.

Das Frühstück war stehen, auch das Körbchen zurückgeblieben. Gegen Mittag kam die Mutter zu mir.

„Ach, Herr Inspector,“ sagte sie, wie es schien, in großer Angst, „ist denn unser Fränzchen noch da?“

„Nein!“

„Sie ist heute Morgen von Hause fortgegangen und noch nicht zurückgekommen.“

„Nun, sie wird irgendwo eingekehrt und aufgehalten sein. Weshalb ängstigen Sie sich?“

„Ich weiß nicht, das Mädchen kam mir heute ganz anders vor; sie mußte etwas auf dem Herzen haben. Ich bin recht in Sorge um sie.“

Ich beruhigte die Frau und schickte sie nach Hause, ohne sie zu ihrem Manne zu lassen. Es mochte kaum eine Stunde verflossen sein, da kehrte sie zurück. Fränzchen hatte sich noch immer nicht eingefunden. Die Mittagszeit war vorüber. Freundinnen und Bekannte wollten das Mädchen nicht gesehen haben. Alle Nachforschungen waren erfolglos gewesen. Die alte Frau lamentirte und weinte und befand sich in der größten Aufregung. Wie sollte ich sie trösten? Das Ausbleiben über die Mittagszeit hinaus ohne jegliche Nachricht war so ungewöhnlich, daß die Besorgniß auch mir vollkommen begründet erschien. Und dann der Auftritt am Morgen! Ich erzählte diesen der Frau in allen Einzelnheiten; ich erinnerte mich dabei, daß Fränzchen dem Vater nicht hatte begegnen wollen, daß sie eingestanden hatte, ein Geheimniß zu haben und daß sie schließlich die Mittheilung für eine spätere Zeit zusagte. Statt aber zu beruhigen, vermehrte diese Mittheilung die Aufregung der alten Frau. Ich mußte Alles aufbieten, sie von einer Besprechung mit ihrem Manne zurückzuhalten und zum Nachhausegehen zu bewegen. Sie hatte mich kaum verlassen, so trat der Gefangenen-Arzt, der zugleich Physicus war, bei mir ein. Der Arzt mußte der Frau noch auf dem Flur begegnet sein und ihre Betrübniß und die verweinten Augen bemerkt haben.

„War das nicht die Frau unseres alten Schilberg?“ fragte er hastig.

„Sie ist eben von mir fortgegangen.“

„Die armen, alten Eltern!“ versetzte er ernst und theilnehmend.

Dieser Ausruf erschreckte mich. Ich wußte für den Augenblick nicht, was ich sagen und denken sollte. Der Arzt war an das Fenster getreten und starrte schweigend auf den Gefangenen-Hof, auf dem es nichts zu sehen gab, was ihm nicht schon vollständig bekannt gewesen wäre. Die Stille wurde unheimlich, beängstigend. Der Arzt wollte nicht sprechen, ich mußte ihn dazu veranlassen.

„Die Frau macht sich am Ende ganz vergebliche Sorge,“ sagte ich, um nur einen Anknüpfungspunkt zu haben. „Fränzchen wird sich schon wieder einstellen, sie kann –“

„Sie wissen nicht?“ fiel der Arzt mir in’s Wort.

„Nein! was denn?“

„Sie wissen wirklich noch nicht, daß Fränzchen bereits gefunden ist?“

„Wahrhaftig, nein!“

„Da wissen Sie auch nicht, wie und wo das Mädchen gefunden ist?“

„Nein, nein!“

„Fränzchen ist – todt!“

„Mein Gott! ist das möglich?“

„Ja, es ist traurig, daß es so ist! Unter solchen Umständen den Tod zu finden! Bei so vieler Berechtigung für das Leben so urplötzlich vernichtet zu werden! Das ist grauenhaft.“

„Aber wie denn?“ fragte ich, da ich den Arzt nicht verstand.

„Das Mädchen ist ertränkt!“

„Wie?“

„Verstehen Sie wohl,“ versetzte der Arzt mit ungewöhnlicher Heftigkeit, „das Mädchen hat den Tod durch die Hand eines Andern gefunden es ist gewaltsam in das Wasser gestürzt, es ist ermordet worden!“

„Das ist entsetzlich!“

„Ja, das ist es. Ich weiß nicht,“ fuhr der Arzt mehr im Selbstgespräch fort, „ob es ein Trost für die alten Leute sein wird, daß der Mörder bereits entdeckt und festgenommen ist und daß an seiner Ueberführung kaum gezweifelt werden kann. Nein, nein, das kann nicht trösten; für den alten Gefangenen-Aufseher muß ja gerade dies eine unversiechbare Quelle des Schmerzes sein. Dem alten Manne war das Kind in das Herz hineingewachsen; es war sein Leben, sein Alles. Und nun den Mörder dieses Kindes täglich vor Augen haben zu müssen, mit ihm zu verkehren! Herr Gott! das ist unmöglich, das ist mehr, als ein Mensch ertragen kann. Wir müssen einen Ausweg suchen und werden ihn finden. Hat denn Gottes Auge nicht sichtbar über diese verruchte That gewacht? Sie kennen doch die alte Gulke?“ wendete er fragend sich mir zu.

„Nein!“

„Es ist ein Wasserloch von unergründlicher Tiefe und einigen tausend Schritten Umfang, eingefaßt von einem vielleicht zwanzig Fuß hohen Ufer, das äußerst steil ist. Auf der Krone dieses Ufers, dicht an dem Rande desselben, zieht sich ein ungeschützter Fußweg hin. Dieser Weg wird von Spaziergängern häufig benutzt. Heute Morgen zwischen neun und zehn Uhr ist Fränzchen dort gesehen worden. Sie ist nicht allein gewesen; ein junger Mann hat sie am Arm geführt. Man muß hieraus schließen, daß zwischen Beiden ein intimes Verhältniß bestanden hat. Anfangs sollen Beide in ernster, aber ruhiger Unterhaltung begriffen gewesen sein, nach und nach diese jedoch einen leidenschaftlichen Charakter angenommen haben. Es hat den Anschein gehabt, als ob auf der einen Seite bestimmt und entschieden gefordert, auf der andern Seite dagegen beharrlich abgelehnt werde. Der Wortwechsel ist bald darauf lebhaft und erregt geworden. Fränzchen hat hierbei dem jungen Manne den Arm entzogen. Beide sind dann neben einander noch einige Schritte vorwärts gegangen. Plötzlich ist Fränzchen stehen geblieben und hat laut, weithin hörbar gerufen: ‚Was wolltest Du thun?‘ Die Erwiderung des jungen Mannes ist nicht verstanden worden. Darauf kann aber nichts ankommen, denn die That giebt dafür unwiderlegbar das Verständnlß. Fast unmittelbar nach jener Frage hat Fränzchen sich zurück-, der Stadt zugewendet, anscheinend um allein hierher zurückzukehren. Kaum ist dies geschehen, so ist der junge Mann ihr nachgeeilt, hat sie mit der einen Hand an den Hals, mit der andern an die Hüfte gefaßt und so den steilen Abhang hinunter, in das unermeßlich tiefe Wasser gestürzt. Ist das nicht teuflisch?“

„Aber woher wissen Sie das Alles?“

„Der Anfang und das Ende dieses entsetzlichen Verbrechens ist von zwei verschiedenen Seiten beobachtet worden, ohne daß die That hat gehindert werden können. Meine Wissenschaft stützt sich auf diese Beobachtungen, die vollkommen glaubwürdig sind. Ich bin zu Ihnen geeilt, nur um zu verhindern, daß Schilberg mit dem Ungeheuer zusammentrifft. Wie werden wir das anfangen?“

Unsere Berathungen führten zu dem Resultate, daß der Arzt zunächst mit Schilberg reden und ihn dann mit fortnehmen sollte. An diesem Tage bekam ich den alten Mann nicht wieder zu Gesicht.

In den vielen Jahren meiner Amtsthätigkeit sind mir Verbrecher

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 105. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_105.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)