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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

No. 8.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Reichsgräfin Gisela.

Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)
7.

In diesem Augenblick schrillte eine heftig angezogene Klingel durch den Corridor. Lena, die ein Bündel Kleidungsstücke auf dem Arme trug, drängte sich hastig an den beiden jungen Leuten vorüber und verschwand in einem Seitenzimmer, dessen Thorflügel weit offen standen.

Drüben schalt eine Kinderstimme die Kammerjungfer wegen ihres langen Ausbleibens. Berthold hörte diese herrischen, aber trotz alledem doch so süßklingenden Laute zum ersten Mal; er bog unwillkürlich den Kopf vor. Eine lange Flucht von Gemächern schloß sich dem Boudoir an, in welchem er sich befand.

In der gegenüberliegenden Thür des anstoßenden Salons stand die kleine Gräfin, das Geschöpfchen, das den Nimbus eines feudalen, altberühmten Namens über der Stirn trug und mit seinen kleinen Füßen herrschend auf einem kolossalen Besitz stand. … Eine Portiere von dunkelviolettem Plüsch hing über dem blassen Gesichtchen und verlieh ihm einen häßlich gelben Ton – abstoßend vom Kopf bis zur Zehe stand das Kind dort, für diesen Moment selbst des einzigen Reizes verlustig, den es besaß: die braunen Augen mit dem sonst so weichen Blick sprühten vor Erbitterung und – Hochmuth.

Die Kleine nahm hastig einen Mantel von Lena’s Arm und warf ihn Über die Schultern; das strahlend rosenrothe Hütchen jedoch, das ihr die Kammerjungfer hinhielt, wies sie zurück.

„Es ist ja aber das Neueste!“ bat Lena. „Excellenz der Papa haben es gestern mitgebracht –“

„Ich will nicht,“ entschied die kleine Gräfin kurz und ergriff eine dunkle Capuze, in die sie das Köpfchen hüllte. Dann lockte sie Puß, der auf einem Kissen am Ofen lag, zu sich heran und nahm ihn auf den Arm.

Drunten fuhr donnernd ein Wagen vor. … Die Kammmerjungfer, die bereits in einem dicken Winterüberwurf steckte, warf eine Capuze über den Kopf – das Alles sah aus wie eine schleunige Abreise.

Jetzt erst, als sie sich zum Gehen anschickte, sah Gisela den Hüttenmeister, der währenddem in die Salonthür getreten war. Sie nickte ihm leicht, wie einem alten Bekannten, zu, aber das holde Lächeln, das auch er bisweilen an ihr gesehen, erschien nicht auf dem unschönen Gesichtchen.

„Ich fahre nach Greinsfeld,“ sagte sie trotzig. „Greinsfeld gehört mir ganz allein, hat die Großmama immer gesagt. … Papa will der Fräulein von Zweiflingen die Roxane schenken.“ …

„Wer ist denn Roxane?“ fragte der Hüttenmeister mit dem schwachen Versuch eines Lächelns – seine sonst so volle Stimme klang matt und tonlos.

„Nun, Großmama’s Reitpferd. … Fräulein von Zweiflingen soll reiten lernen, hat Papa heute bei Tische gesagt. … Die arme Roxane, ich hab’ sie sehr lieb und leide es nicht, daß sie so abgehetzt wird! … Und sehen Sie doch, das ganze Seezimmer hat Papa heraufschaffen lassen – die Großmama wird sehr, sehr böse sein im Himmel!“

Sie schritt aufgeregt dem Ausgang zu; aber noch einmal drehte sie sich um. „Ich hab’ dem Papa gesagt, daß ich Fräulein von Zweiflingen nicht leiden kann,“ sagte sie, den kleinen Kopf zurückwerfend – die tiefste, innerste Genugthuung klang noch aus jedem Laut. – „Sie ist unartig, gegen unsere Leute und sieht immerfort in den Spiegel, wenn sie mir Stunden giebt. … Aber da ist Papa furchtbar böse geworden – ich sollte sie um Verzeihung bitten, denn sie hatte ein ganz rothes Gesicht. … O, ich werde mich hüten! Es schickt sich nicht für mich, zu bitten, hat die Großmama immer gesagt –“

Sie brach plötzlich ab – der unten haltende Wagen rollte davon. Fast zu gleicher Zeit, wurde eine Thür am äußersten Ende der langen Zimmerreihe geöffnet, und wenn auch die allerorten liegenden dicken Teppiche die Fußtritte dämpften, so hörte man doch, daß ein Mann rasch näher schritt.

„Excellenz der Papa!“ flüsterte Lena.

Gisela wandte sich um. Jedes andere Kind würde in einer ähnlichen Lage Furcht und Angst empfunden haben, denn das Gefühl der Ohnmacht und Abhängigkeit bricht in entscheidenden Momenten unerbittlich selbst über die trotzigste Kinderseele herein – allein diese kleine Waise wußte ja, daß sie selbständig sei; um das aristokratische Bewußtsein in ihr zu erwecken, hatte man ihr das holde Gefühl kindlicher Abhängigkeit und Unterwerfung geraubt. … Sie drückte ihren Puß fest an sich und erwartete, unter die Plüschportiere tretend, ruhig ihren Stiefvater.

Der Hüttenmeister zog sich in den Hintergrund des Boudoirs zurück.

„Hochmüthige Brut! – Wie gut die kleine Schlange schon zu zischen versteht!“ murmelte der Student grimmig, indem er sich widerwillig neben seinen Bruder stellte – er hätte am liebsten das weiße Schloß mit all’ seinen Insassen im Rücken gehabt.

Der Minister war inzwischen näher gekommen.

„Ah – in der That reisefertig, mein Hühnchen?“ fragte er

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 113. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_113.jpg&oldid=- (Version vom 25.1.2021)