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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Araber von Hira und Medina die That des Pythagoräers zur Verherrlichung des Christenthums oder des Islams verwerthet haben; oder endlich, ob sich ein ähnliches Ereigniß im Laufe der Zeiten an verschiedenen Orten wiederholt habe. So viel scheint aber jedenfalls gewiß zu sein, daß der Vorfall an sich eine historische Thatsache ist und das Außerordentliche dieser Thatsache im Alterthum einen solchen Eindruck gemacht hat, daß nicht weniger als drei Religionen sich die Ehre dieser That anzueignen versucht haben. Die Möglichkeit einer Wiederholung desselben Vorfalles zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Ländern ergiebt sich noch aus der folgenden Erzählung.

Der König Chusrav Nuschirevan, welcher von 531 bis 579 nach Christi Geburt in Persien regierte und einer der ausgezeichnetsten Fürsten war, ließ in seiner Residenzstadt Ktesiphon, in der Nähe des heutigen Bagdad, am Tigris einen prachtvollen Palast erbauen, dessen Trümmer bis auf den heutigen Tag noch vorhanden sind; einer meiner hiesigen Bekannten, ein Bagdader Namens Mehemed Aga, der in der Welt viel umhergereist ist, erzählte mir, er habe als Knabe oft in den Räumen dieses Palastes gespielt und die außerordentliche Härte des zum Bau verwendeten Holzes bewundert, in welches kein Nagel eindringen könne; später habe er auf seinen Reisen in Indien den Baum gesehen, von welchem das Holz herrühre, und erfahren, daß die Engländer dieses Holz (Teakholz) zum Bau ihrer Schiffe verwenden. Ueber den Bau erzählte er mir eine Geschichte, die mir schon aus Mirchond und aus Mohammed Aufi, einer Handschrift der Hamburger Stadtbibliothek, bekannt war. Diese Erzählung lautet: Eines Tages habe ein Gesandter des griechischen Kaisers diesen Palast besehen und seine Führer auf eine Unregelmäßigkeit in der Anlage aufmerksam gemacht. Man sagte ihm, die Unregelmäßigkeit rühre davon her, daß in der Nähe des Gebäudes eine alte Frau, Namens Zal Madain, eine kleine Wohnung hatte, welche sie dem König nicht abtreten wollte, obgleich dieser ihr eine namhafte Summe dafür anbot. „König,“ sagte sie, „möge Deine Herrschaft, Dein Reichthum und Deine Macht bis an’s Ende dauern, damit ich täglich auf Deine Gerechtigkeit schauen und in ihrem Schatten mein Tagewerk vollbringen könne.“ Chusrav, welcher von seinen Untergebenen die strengste Gerechtigkeit verlangte, wagte es nicht ein böses Beispiel zu geben; er ließ die Alte ruhig im Besitz ihrer Wohnung, und wenn die Kuh, von welcher sie ihren Unterhalt hatte, die Hallen des Palastes beschmutzte, so pries man den gerechten Sinn des Königs. Der Gesandte rief aus: „Diese Unregelmäßigkeit, verbunden mit Gerechtigkeit, ist eine schönere Zierde, als eine durch Gewaltthätigkeit erzielte Symmetrie.“

So weit die Erzählung meines Gewährsmannes, zu deren Beglaubigung der ehemalige englische Consul Rich in Bagdad die Erläuterung giebt, daß an der dem Flusse zugekehrten Seite des Palastes ein Theil des Mauerwerkes augenscheinlich dem ursprünglichen Plane fremd sei, obgleich sich oberhalb desselben eine Reihe von Nischen befindet. Diese Mauer gehörte also eigentlich zu dem Hause der Alten, und da der Palast ihr jeden andern Ausweg versperrte, so mußte sie mit ihrer Kuh jedesmal durch die große Halle in der Mitte des Palastes gehen, wo der König öffentliches Gericht hielt. Friedrich der Zweite und der Müller von Sanssouci sind historische Personen aus der neuesten Zeit, aber die Handschrift des Mirchond auf der Pariser Bibliothek, aus welcher Silvestre de Sacy übersetzte, und die Handschrift des Mohammed Aufi auf der Hamburger Stadtbibliothek (Nr. 190 und 191), aus welcher ich übersetzte, waren lange vor der Geburt des großen Friedrich und des Müllers von Sanssouci geschrieben.

Dr. Mordtmann in Constantinopel.     




Aus der Welt jugendlicher Verbrecher in Berlin.

Von Theodor Krause in Rummelsburg.

Die folgenden Mittheilungen haben nicht den Zweck, ähnlich der gegenwärtig vielbegehrten Gerichtssaal-Literatur flüchtig zu unterhalten. Sie fordern ein tieferes, nachhaltigeres Interesse, welches zu entzünden schon der Ueberschrift gelingen sollte. Es muß bewiesen werden, daß für keinen Zweig der öffentlichen Erziehung so wenig gethan wird und so viel zu thun erübrigt, als für die Rettung sittlich-verwahrloster Kinder, und daß weitaus das Meiste dessen, was geschieht, hervorgegangen ist aus der Religiosität oder der Humanität Einzelner, aber nicht aus der Verpflichtung Aller. Vor dem Bemühen, diese allgemeine Verpflichtung zum Bewußtsein zu bringen, treten zunächst alle Fragen nach den Ursachen jener Interesselosigkeit und nicht minder alle etwaigen Vorschläge für die beste Lösung der großen Aufgabe in den Hintergrund. Jedes Rettungshaus, gleichviel ob „rauhhäuslerisch“ oder „zuchthäuslerisch“ organisirt, ist als Abschlagszahlung auf die öffentliche Schuld Jedermanns der Anerkennung und Unterstützung würdig. Wir wünschen Propaganda nicht für eine Richtung, sondern für die Sache zu machen, welche zunächst allerdings den Staat angeht. Der Pflicht, für die Sicherheit der Staatsbürger zu sorgen, wird gewiß nicht damit genügt, daß man die der Gesellschaft feindlichen Elemente zeitweilig ausstößt. Man muß sie vielmehr derselben versöhnt zurückgeben. Das ist Sache der Erziehung. Mit Erfolg läßt sich aber nur die Jugend erziehen, darum beginnt jene Schutzpflicht des Staates schon mit Rücksicht auf die Jugend, und es ist falsch, den Stadtgemeinden diese Pflicht zuzuschieben. Sollte sich unsere Beweisführung der exacten Jurisprudenz gegenüber nicht stichhaltig erweisen, so wird ein Appell an die öffentliche Meinung um so sicherer gelingen.

Tausende von Familien, und nicht ausschließlich der ärmeren Classe, kennen die herzbrechende Last eines mißrathenen, eines verlorenen Sohnes. Sie alle wissen es, welch’ reißende Fortschritte das Laster in dem Kinde macht, trotz der Mutter Milde und Thränen, trotz des Vaters Autorität und Strenge. Einige Wenige können voll Dankbarkeit den Tag preisen, der in ihnen den Entschluß zur Reife brachte, das noch junge Kind einer Rettungsanstalt zu übergeben. Viele aber bereuen es, zu diesem Entschlusse „zu spät“ oder gar nicht gekommen zu sein. Die Frage nach der Nothwendigkeit eines besonderen Erziehungsapparates wird tausendstimmig bejaht werden. Eine andere Frage ist, ob die Massenerziehung in Anstalten, oder mehr die Einzelerziehung in Familien einen günstigen Erfolg sichert. Die letztere Form hat unerreichte Vorzüge, wenn – man die geeigneten Familien gefunden hat, in welchen die Erziehung der verwahrlosten Kinder gleichmäßig von Mann und Frau mit liebevoller Hingabe und peinlicher Treue von vorn angefangen wird. Das einzig-sichere Besserungsmittel bleibt ja unter allen Umständen die Neugewöhnung. Gegenüber der Verwahrlosung durch Armuth, Charakterschwäche oder böses Beispiel hat aber nur ein Jahr einer nach festen Grundsätzen geordneten Erziehung noch nicht einmal den Erfolg der Aussöhnung mit den neuen Verhältnissen. Darum sei wiederholt auf das drohende „zu spät!“ verwiesen.

Was die Mittheilungen selbst anbelangt, so beruhen sie durchweg auf eigenen Erlebnissen des Verfassers, der als Lehrer in der bekannten Anstalt Rummelsburg bei Berlin fungirt. Jeder romantische Aufputz ist verschmäht in der Annahme, daß das Leben in seiner wahren Gestalt eine eindringlichere Sprache redet, als das kühnste und gelungenste Phantasiegebilde. Mit der objectiven, fast protokollarischen Fassung sollte die drohende Klippe pädagogischer Problemhascherei und Wahrsagerei umsteuert, das Nachdenken und ein thatkräftiges Gefühl für die Rettung verwahrloster Kinder aber um so unmittelbarer angeregt werden. Wie weit dies gelungen – der Leser mag’s entscheiden.


1. Matthias.

Die Glocke am Eingange des Rettungshauses läutete auffallend stark und anhaltend. Von allen Seiten, aus den Wohnräumen, vom Arbeitssaal, von der Gartenthür her richteten sich neugierige Blicke auf die Pforte. Gleichzeitig öffnete sich diese, und ein Schutzmann, mit kräftiger Faust einen etwa dreizehnjährigen schlanken Burschen vor sich her schiebend, wurde sichtbar. Er verlangte zum Director geführt zu werden. Ich, als dessen

zeitweiliger Vertreter, ging ihm entgegen. Er überreichte mir ein

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 153. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_153.jpg&oldid=- (Version vom 10.3.2022)