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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Actenfascikel, empfahl, auf seinen jungen Begleiter deutend, im Auftrage seines Chefs die größte Vorsicht und entfernte sich militärisch grüßend. Ich führte den Knaben in mein Zimmer und begann ein kurzes Examen. Das Ergebniß desselben war eine Wiederholung der düstern Geschichte, die wir von fast jedem der uns zugeführten Kinder hören müssen. Auch unser Neuling kam direct aus dem Polizeigefängniß, wo er für Diebstahl im dritten Rückfalle eine vierzehntägige Gefängnißstrafe verbüßt hatte. Ehe ich ihn zu reden nöthigte, ließ ich meine Augen eine Weile prüfend auf seinem Gesicht ruhen. Er begegnete meinem Blick und erröthete. Dies war mir das erste Zeugniß über sein inneres, und im Andenken an meine täglichen Erfahrungen mußte ich es ein günstiges nennen, obwohl mich die grauen Augen mit den bläulichen Schatten unangenehm lauernd maßen. Sie füllten sich schon bei den ersten Worten der Erzählung mit Thränen. Unter Schluchzen bekannte er seine Diebstähle, ergriff endlich meine Hand und gelobte ernstliche Umkehr und Besserung.

Ich war vor anderthalb Jahren, erfüllt von heiligem Eifer und warmer Theilnahme für die verwahrloste Jugend, nach Berlin gekommen, hatte bisher nicht vergeblich gearbeitet, diesen Erfolg aber mir selbst durch die Annahme erklärt, daß die Vorgeschichte meiner Zöglinge, wie es in vielen Fällen erwiesen war, durch die eigenen Angehörigen übertrieben schlimm dargestellt, daß das Werk der Rettung also nichts Unmögliches sei. Die soeben erlebte Scene war mir nun durchaus neu, denn Aufnahme und Einweisung der Knaben gehörten naturgemäß zu den Obliegenheiten des Directors. Zudem befand sich das amtliche Schriftstück in bester Uebereinstimmung mit dem mündlichen Bericht, und so war ich geneigt, die Reue des Knaben zunächst für echt und jene Warnung des Schutzmanns für überflüssig zu halten. – Abends erschien der Director, um meine Mittheilungen entgegen zu nehmen. Er war wie immer für die mildeste Auslegung des Falles geneigt und hatte schon nach wenigen Tagen von Matthias, wie der Knabe genannt wurde, eine auffallend günstige Meinung gewonnen. In der That überflügelte dieser an geistiger Begabung, gutem Anstande, entgegenkommender Dienstfertigkeit und körperlicher Gewandtheit alle seine Genossen. Bald machte sich sein Einfluß bemerklich. Damit verdoppelte sich unsere Aufmerksamkeit. In den nächsten Conferenzen spielte Matthias eine nicht geringe Rolle. Ich erklärte auf Grund scheinbar unbedeutender Vorkommnisse offen mein Mißtrauen und mahnte, den Knaben vor der Hand noch unter besondere Aufsicht zu stellen, ihn aber keinesfalls auszuzeichnen. Ich fand kein Gehör, denn die geistige und körperliche Kraft des Knaben hatte, wie ich bemerken mußte, nicht nur den Zöglingen, sondern auch den Aufsehern und Dienstboten imponirt. Der Director faßte den Plan, dieses Uebergewicht zum Besten der Ersteren walten und wirken zu lassen.

Drei Wochen that Matthias seine Schuldigkeit. Schon war ich geneigt, jener milderen Anschauung das Feld zu räumen, da – es war am Morgen eines Sonntags und Alles zum Kirchgange gerüstet – wurden Matthias und gleichzeitig Rock, Stiefel und Geldbeutel des kleinsten der Aufseher vermißt. Bald war die Stelle der Gartenwand gefunden, die dem Flüchtling für den Rückzug geeignet erschienen war. Doch nicht lange sollte er seiner Freiheit sich freuen. Der Telegraph trug den Befehl, auf ihn zu fahnden, nach allen Polizei-Stationen, seine Photographie war schon früher mitgetheilt und schon am nächsten Morgen wurde er uns von demselben Schutzmanne zugeführt, der zum ersten Male sein Begleiter war. Sein Weg ging jetzt ohne Weiteres in das Carcer, eine einfenstrige geräumige Stube des dritten Stockwerks, welche ihrer eigentlichen Bestimmung nur äußerst selten übergeben und gewöhnlich zur Schneiderei benutzt wurde. Der Director ordnete an, daß Matthias in diesem Raume bis Ende der Woche wie ein Gefangener behandelt, das heißt zur Arbeit von früh bis spät angehalten und, so weit dies möglich, nie ohne Aufsicht gelassen werden sollte. Die Woche verging. Sonnabend Abend war Conferenz. Ich warf, ehe ich das Conferenzzimmer betrat, noch einen Blick durch das auf demselben Corridor befindliche Flurfensterchen des Carcers. Matthias lag schon im Bette. Der wachhabende Aufseher meldete mir, sein Schützling habe über Kopfweh geklagt und sei schon um sechs Uhr zur Ruhe gegangen. In meiner Neigung zum Mißtrauen hielt ich das Kopfweh für simulirt, trat in den Raum und fühlte Matthias nach Puls und Stirn. Ich mußte sein Befinden für normal halten. Der Umstand aber, daß er, der sonst so leise schlief, bei meiner Berührung nicht erwacht war, gab mir einen weiteren Verdachtsgrund. Ich untersuchte genau Ofen, Thür und Fenster. Letzteres war mit starken Eisenstäben vergittert, dies jedoch in ungewöhnlicher Weise so, daß sich von oben viertelkreisförmige und von den Seiten gerade Stäbe nach außen schwangen. Die so entstehende Oeffnung nach unten füllte ein schwerer hölzerner Fensterladen aus, welcher geschlossen oben nur eine Oeffnung von neun Zoll ließ, geöffnet aber von den umgebogenen Enden der krummen Stäbe aufgefangen wurde. Die unter der Brüstung außen eingegypsten Charniere waren sehr dauerhaft. Eine Flucht durch dieses Fenster im dritten Stockwerk war schlechterdings undenkbar. Das Thürschloß jedoch fand ich lose in den Schrauben. Auf meine Mahnung wurde noch ein Vorlegeschloß angebracht und so hielten wir unsern Gefangenen für hinlänglich verwahrt.

Die Sechs-Uhr-Glocke hatte den Anbruch des Sonntags noch nicht verkündet, als mich auffallendes Laufen und Lärmen auf dem Hofe weckte. Ich fuhr an’s Fenster und: „Matthias ist ausgerückt!“ war das Erste, was ich hörte. Nach fünf Minuten war ich in der leeren Zelle. Die Flucht war durch das Fenster erfolgt. An einem der runden Stäbe hing ein langer, geknoteter Streifen Leinwand: das zerschnittene Betttuch. Matthias hatte es zur Vergrößerung der Haltbarkeit in seinem Nachtgeschirr angefeuchtet. Wie aber war der Bursche über den unversehrten Fensterladen und wie war er bis hinunter gekommen? Ein Knabe fand die Erklärung. Sie lautete: Matthias hat den Fensterladen aufgezogen, den leinenen Streifen befestigt, sich durch die neunzöllige Lücke gedrängt und dann bis zum Fenster des ersten Stockwerks hinabgelassen. Hier hat er mit den Füßen die Scheiben eingestoßen und das Fensterkreuz umfaßt, endlich das dünne Weinspalier erreicht und an diesem die Flucht fortgesetzt. Die Stäbe desselben sind gebrochen und Matthias ist herabgestürzt. Zahlreiche Spuren an der Hauswand und im Sande des Gartens bezeugten die Richtigkeit dieser Auslegung. Matthias war verschwunden. Alle Versuche, seiner habhaft zu werden: Nachfragen bei den Verwandten, Verhöre der Knaben, welche Matthias ausgezeichnet hatte, Anzeigen bei in der Stadt zerstreut wohnenden Freunden der Anstalt und schließlich bei der Polizei – blieben erfolglos. Die Aeußerungen zweier Knaben lenkten meine Aufmerksamkeit auf zwei Orte, welche Matthias möglicherweise zu seinem zeitweiligen Aufenthalte nehmen konnte: ein Kaffee-Local niedersten Ranges in der Klosterstraße und ein berüchtigter Keller am Alexanderplatz. Hier erschien ich wiederholt zu verschiedenen Tageszeiten, in jenem Keller allerdings nur in Begleitung eines Schutzmannes. Meine Gänge waren vergebliche. Fünf Wochen vergingen. Jede Spur von dem Knaben schien verloren.

Da, eines Sonnabends – es war Jahrmarkt auf dem Dönhofsplatz – ging mir’s durch den Kopf, daß Matthias im Gedränge des Marktverkehrs leichte Arbeit für seine langen Finger erhoffen, er selbst also auf dem Markte zu finden sein würde. Von diesem Gedanken ganz erfüllt, beurlaubte ich mich unter Angabe meiner Aussicht beim Director schon ein Uhr Mittags. Bis vier Uhr patrouillirte ich zwischen den Buden auf und ab. Als ich merkte, daß die Menschenmenge sich lichtete, wählte ich den nächsten vom Dönhofsplatz nach den nördlichen Vorstädten führenden Weg über den Hausvoigteiplatz, den Werderschen Markt und den Schloßplatz nach der Königsstraße, machte beim Hegel’schen Bilderladen (Poststraßen-Ecke) Halt und beobachtete genau die Vorüberziehenden. Später machte ich Kehrt und setzte meine Beobachtung im Spiegel der großen Schaufensterscheiben fort. Etwas abgespannt, verließ ich halb sechs Uhr meinen Posten, um, dem Menschenstrome entgegen, auf dem vorher zurückgelegten Wege den Dönhofsplatz wiederzugewinnen. Ich kam bis zur sogenannten „gleichgültigen“ Ecke.[1] Hier winkte ganz in der Nähe das Schauspielhaus. Shakespeare’s „bezähmte Widerspenstige“ war angekündigt, und ich beschloß, meine Schaulust nicht zu bezähmen. Bei Bothe u. Bock aber lagen einige musikalische Novitäten aus, und ich blieb stehen, sie zu mustern.

Unwillkürlich benutzte ich die Fensterscheiben wieder als Spiegel,

ein Blick und – drüben auf dem Trottoir ging Matthias

  1. Bei der Kreuzung von Oberwall- und Jägerstraße ist auf der einen Seite die bekannte Parfümerie von Treu u. Nuglisch, auf der andern das vielbesuchte Wurstgeschäft von Niquet. Der Berliner sagt nun: „Auf der einen Seite ist mir alles Wurscht, auf der andern alles Pomade!“
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 154. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_154.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)