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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

No. 11.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Reichsgräfin Gisela.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)

„Um Gott, Kind, ich glaube gar, Du hast Anlage zur Sentimentalität – nur das nicht!“ rief der Minister abwehrend – seine Stimme hatte in den weiteren zwölf Jahren seiner diplomatischen Laufbahn bedeutend an schneidender Schärfe gewonnen. „Ich habe Dir lediglich aus dem Grunde die hirnverdrehenden Märchenbücher konsequent weggenommen, und nun muß ich doch erleben – daß Dir die sogenannte Waldpoesie im Kopfe spukt. … Weißt Du nicht, daß sich ein junges Mädchen Deines Standes in den Augen vernünftiger Leute grenzenlos lächerlich macht, wenn es à la Gänsemädchen einsam draußen umherschweift, das Ruder in die Hand nimmt –“

„Um ein paar Taglöhnerkinder über den See zu fahren,“ wagte die tieferbitterte Gouvernante einzuwerfen. „Liebe Gräfin, ich fasse es nicht, wie Sie sich so vergessen konnten!“

Bis dahin hatten Gisela’s Augen widerspruchslos, aber mit dem nachdenklich forschenden Ausdruck, der ihnen so eigen war, an dem Gesicht des Stiefvaters gehangen. Die auffallende Gereiztheit Dessen, der, ein einziges Mal ausgenommen, stets die grenzenloseste Nachsicht gegen sie geübt, befremdete sie offenbar mehr, als sie sich die Rüge zu Herzen zu nehmen schien. Bei Frau von Herbeck’s spitzer Bemerkung jedoch flog ein herber Zug um ihren Mund.

„Frau von Herbeck,“ sagte sie, „ich erinnere Sie an das, was Sie immer ,die Richtschnur Ihres ganzen Lebens’ nennen – an die Bibel. … Waren es nur adelige Kinder, die Christus zu sich kommen ließ?“

Der Kopf des Ministers fuhr herum – er starrte seiner Stieftochter einen Moment sprachlos in’s Gesicht. … Dieses junge Wesen, das man „in Rücksicht auf seinen Gesundheitszustand“ in Unwissenheit und geistiger Unthätigkeit hatte aufwachsen lassen, das gleichsam mit der Lebenslust nur aristokratische Anschauungen und Vorurtheile eingeathmet hatte, der streng behütete gräfliche Sproß entwickelte auf einmal von innen heraus eine Logik, die in sehr fataler Weise an die berüchtigte Denkfreiheit erinnerte.

„Was sprichst Du da für ungereimtes Zeug, Gisela!“ fuhr er heraus. „Für Dich ist und bleibt es ein Unglück, daß die Großmama so früh sterben mußte. … Es ist ein Element in Dir, das abwärts neigt, und das würde sie, dies Bild aristokratischer Hoheit und Frauenwürde –“ die Baronin räusperte sich und stieß mit der lackirten Spitze ihres Stiefelchens einen Stein hinab in das Wasser – „ja, sie würde diese Neigung bis auf das kleinste Wurzelfäserchen vertilgt haben,“ fuhr der Minister unbeirrt fort. „In ihrem Namen verbiete ich Dir hiermit ernstlich alle derartigen Unschicklichkeiten, wie sie bereits vorgekommen sind.“

Noch umschloß die unschuldige Mädchenseele mit Inbrunst das Bild der Großmutter – an dies Andenken hatte ihr grübelnder und zersetzender Verstand nie gerührt. Sie war sehr stolz auf ihre hohe Abkunft, weil es die Großmama auch gewesen; sie beharrte in mancher feudalen Härte ihren Untergebenen gegenüber, fest überzeugt, daß es so und nicht anders sein müsse, denn „die Frau Reichsgräfin Völkern“ hatte es genau so gehalten und konsequent von ihrer Enkelin verlangt.

„Nun meinetwegen,“ sagte sie auch jetzt, zwischen Nachgiebigkeit und unmuthigem Widerstand schwankend; „wenn es sich denn durchaus nicht für mich schickt, so geschieht es eben nicht wieder. … Uebrigens waren es durchaus keine Taglöhnerkinder – das kleine Mädchen gehört in die Pfarre –“

Ein Schrei unterbrach sie. Einer der Knaben hatte inzwischen den Kahn weitergerudert und an einer ungünstigen Stelle angelegt. Beim Herausspringen war das kleine Mädchen in den See gestürzt – eben verschwand das blonde Köpfchen unter dem Wasser, als ein riesiger Neufoundländer dicht hinter den am Ufer Stehenden aus dem Dickicht brach und sich in den See warf. Er packte das Kind und legte es, an das Ufer springend, zu den Füßen eines Herrn nieder, der aus dem Gebüsch getreten war.

Das kleine Blondköpfchen war jedenfalls ein munteres, beherztes Ding, das keinen Augenblick die Geistesgegenwart verloren hatte – es richtete sich sofort auf und strich mit flinken Händchen das Wasser aus den Augen.

„Ach, du lieber Gott, meine neue, blaue Orleansschürze!“ rief sie erschrocken und rang die triefende Schürze aus. - „Na, die Mama wird schön zanken!“

Gisela, die herbeigeflogen war, zog mit bebenden Händen ein Tuch aus der Tasche, um es dem Kind über die nassen Schultern zu werfen.

„Das wird wenig nützen,“ sagte der Herr. „Aber ich möchte Sie bitten, künftig zu bedenken, daß solch’ ein kleines Menschenleben auch beschützt sein will, wenn wir es eigenmächtig in die Hand nehmen. … Mag es für die Gräfin Sturm auch nur die Geltung eines Spielzeugs haben – es hat doch Eltern, die es beweinen würden.“

Er nahm das durchnäßte Kind auf den Arm, lüftete den

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 161. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_161.jpg&oldid=- (Version vom 18.9.2021)