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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

die Resultate der Erziehung bei der jungen Gräfin. Sie erhob sich rasch und streckte dem nun pflichtschuldigst vorschreitenden Lakaien abwehrend die Hand entgegen.

„Das Kind darfst Du mir nicht wegschicken, Papa!“ sagte sie sehr entschieden zu dem Minister. „Es ist die Kleine, die vorgestern durch meine Schuld beinahe ertrunken wäre.“

Sie nahm das Kind, das auf sie zulief, bei der Hand und küßte es auf die Stirn. Das allerliebste Geschöpfchen hatte genau das Kindergesicht, wie es der Leser vor zwölf Jahren unter dem Christbaum des Neuenfelder Pfarrhauses in siebenfacher Wiederholung gesehen – rund und rosig weiß wie die Apfelblüthe, und mit einem Paar strahlender Blauaugen, die glückselig zu der jungen Gräfin aufsahen.

„Ich danke auch schön für die vielen, vielen Apfelsinen, die Sie mir geschickt haben!“ sagte die Kleine. „Ach, die riechen so gut! … Und meine blaue Orleansschürze hat die Mama ausgebügelt, und sie ist wieder wie neu! … Die Mama kommt auch – wir gehen nach Greinsfeld; ich bin vorausgelaufen und habe für die Muhme Röder Erdbeeren im Walde gesucht – aber Ihnen geb’ ich sie doch viel lieber als der Muhme.“

Sie hob den Deckel von ihrem Körbchen, das voll duftender Erdbeeren war.

„Ah liebe Gräfin – Ihr sauberes kleines Protegé plaudert ja seltsame Dinge aus!“ rief Frau von Herbeck erbittert herüber. „Ich werde die Südfrüchte für die Zukunft wieder unter meinen Verschluß nehmen – für das gottverlassene Neuenfelder Pfarrhaus sind sie doch wahrhaftig nicht gewachsen! …“

Gisela, die bei dem Verrath der Kleinen ein wenig erschrocken nach der Gouvernante hinübergesehen hatte, wurde glühendroth – trotzdem richtete sie ihre Gestalt hoch auf und maß die kleine, fette, erboste Frau mit einem stolzen Blick.

„Wie thöricht ist es doch, aus Rücksicht auf die Meinung Anderer, es zu verschweigen, wenn man recht handelt!“ sagte sie. „Es war meine Pflicht, mich nach dem Befinden des Kindes erkundigen zu lassen und ihm für den Schreck eine kleine Freude zu machen! … Weil ich aber Ihren Haß gegen das Pfarrhaus kenne, war ich schwach genug, Ihnen den Schritt nicht mitzutheilen. Ich bin bestraft dafür – ich fühle mich zum ersten Mal in meinem Leben tief gedemüthigt, denn der Schein der Unwahrheit fällt auf mich! Ohne daß ich eigentlich Böses gewollt oder gethan habe, muß ich mich schämen!“ – abermals ergoß sich die Purpurröthe über ihr Gesicht – „pfui, welch’ eine häßliche Empfindung! … Das soll mir eine Lehre sein, Frau von Herbeck! Ich werde diese feige Rücksicht fallen lassen und künftig vor aller Welt handeln, wie es meinem Verstand und Herzen gut und recht erscheint!“

Damit war der Gouvernante der Fehdehandschuh hingeworfen, aber sie nahm ihn nicht auf. Wortlos, mit bebenden Lippen richtete sie ihre wehmüthig schwimmenden Augen hülfesuchend auf den Minister. Es blieb zweifelhaft, auf welche Seite er neigte – wohl zuckte ein feindseliger Blick unter den halbzugesunkenen Lidern hervor nach der aufrührerischen Stieftochter – allein im freien, offenen Walde waren leidenschaftliche Erörterungen nicht am Platze, um so weniger, als auch jetzt eine Frau auf der Wiese erschien.

Sie trat zwischen zwei Eichen hervor – hoch und gewaltig – das Urbild eines germanischen Weibes. Den runden Hut am Arm, ließ sie den starkgebauten Kopf mit der breiten Stirn und dem blonden, schlichten Scheitel von Luft und Sonnenlicht umfließen.

Einen Moment stutzte sie, als sie die vornehme Gesellschaft um den Frühstückstisch gruppirt sah, allein über die Wiese weg lief ja der schmal niedergetretene Weg, der Gemeingut war, und die scharfe Verwahrung Seiner Excellenz gegen jegliche Störung hatte die Frau nicht hören können.

Sie schritt demzufolge rüstig vorwärts, die Pfarrerin von Neuenfeld.

Ein Zeitraum von über zwölf Jahren lag zwischen heute und jenem verhängnißvollen Weihnachtsabend in der Pfarre. … Die mit jener Stunde auseinander gerissene Kluft zwischen Schloß und Pfarrhaus war seitens der tiefgereizten, feudalen Partei unerbittlich offen erhalten worden – auf der kleinen Waldwiese standen sich die drei Frauen zum ersten Mal wieder gegenüber.

Zeit, Mühen und Sorgen hatten wohl einzelne feine Linien in das helle Gesicht der Pfarrerin gezeichnet, aber das Wangenroth war nicht verlöscht, und die edelkräftigen Bewegungen der Glieder hatten nichts eingebüßt an Elasticität und Festigkeit – kein Wunder! War doch die kerngesunde Seele, die sie leitete und beherrschte, dieselbe geblieben! Am Charakter der Gesammterscheinung waren die zwölf Jahre ebenso spurlos hingeglitten, wie an jenem jungen, schönen, frivolen Weibe, dessen schwarze brennende Augen unersättlich begehrend in die Welt hineinleuchteten.

Das waren zwei Gestalten, die in der Frauenwelt zu allen Zeiten vertreten sein werden – jene Dritte aber, die kleine, fette Frau dort mit den tiefgesenkten Mundwinkeln und den andächtig schwimmenden Augen, gehörte zu den Erscheinungen, welche nur periodisch wiederkehren – ein Typus, der eben nur möglich ist, wenn Kirche und Politik zusammengehen.

Die eingefleischte Weltdame, die vierzig Jahre lang das Bibellesen lediglich als Privilegium beschränkter Frauen und der Armuth angesehen, die den Choral als etwas „Ueberschwängliches“ verachtet hatte und einen gewissen Höhepunkt der Tugend unausstehlich finden konnte – sie hatte einen wahren Harrassprung im äußeren Bekenntniß gemacht. – Dazu gehörte allerdings viel edle Dreistigkeit, aber die Freunde der „Erweckten“ nennen das Inspiration.

Eine Frauenseele kann abirren, kann fallen, ohne ganz den Hort der Religion aus ihrer Brust zu verlieren – und dann ist auch sie nicht die Verlorene – aber ein Weib, das um äußerer Vortheile willen diesen Hort heuchelt, verfällt dem strengsten Richterspruch, denn es treibt frechen Handel mit dem Heiligsten! …

„Mama, das ist die liebe, schöne Gräfin, die schuld ist, daß ich in’s Wasser gefallen bin!“ rief das kleine Mädchen seiner Mutter entgegen.

Gisela lachte wie ein Kind und auch aus den Augen der Pfarrerin strahlte der Humor und die Belustigung über ihr naives Töchterchen – aber sie blieb einen Moment wie angewurzelt vor der jungen Gräfin stehen. Wohl hatte sie das bleiche Gesichtchen des hochgeborenen Kindes zu verschiedenen Zeiten hinter den Glasscheiben des Wagens flüchtig an sich vorüberhuschen sehen – stets hatte sie gemeint, es sei das letzte Mal – und nun hatte ein einziges Jahr die gebrechliche Hülle zu einer lieblichen Mädchenblume umgewandelt.

„Mein Gott, liebe Gräfin,“ rief sie, „Sie sind ja die leibhaftige“ – nein, und wenn auch die Ähnlichkeit zwischen Großmutter und Enkelin eine wahrhaft staunenerregende war – sie konnte unmöglich dieses jungfräulich holdselige Geschöpf, das so liebreich ihr Kind an der Hand hielt, mit jenem Weibe vergleichen, welches einst als Gräfin Völdern in schrankenlosem Uebermuth, bar aller Zucht und Sitte, taub für die Klage der Nothleidenden und unerbittlich und erbarmungslos über zertretene Herzen hinschreitend, auf Erden gewandelt war!

(Fortsetzung folgt.)




Der Knoten im Taschentuch.

Bedarf es noch der erklärenden Worte zu dem trefflichen Bilde des Münchner Künstlers J. E. Gaiser? Spricht das verdrießlich-mürrische Gesicht, das verlegene Kratzen hinter dem Ohr, das forschende Schielen nach dem beängstigenden Knoten nicht deutlich genug? Schmeckte der Erbacher oder Laubenheimer gestern Abend, als das verhängnißvolle Zeichen geknüpft wurde, wieder so ausgezeichnet, daß mit dem letzten Tropfen des edlen Rebensaftes auch die Erinnerung an das schnupftüchliche Fragezeichen verschwunden war? Was steckt nun in dem geheimnißvollen Knoten? War’s eine wissenschaftliche Frage, die zu Hause das Conversationslexikon beantworten sollte; war es die Einladung zu einem Caviarfrühstück, was noch viel fataler wäre, oder hat sein Nachbar, der Herr Assessor, gestern Abend vielleicht in Anbetracht des schlechten Gedächtnisses des Knotenschlingers daran erinnert, ja nicht der morgenden Gevatterschaft bei der Frau Stadträthin zu vergessen, die das sehr übel aufnehmen würde?

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 196. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_196.jpg&oldid=- (Version vom 11.3.2020)