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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

dieses Ereigniß einen mächtigen Stoß, dann aber trug dasselbe für die Wissenschaft die große und bedeutsame Frucht, von der wir im Folgenden reden wollen.

Unter den Göttinger Verbannten befanden sich Jakob Grimm, der Begründer und erfolgreichste Bebauer des Gebiets deutscher Sprachforschung, und dessen Bruder Wilhelm, gleichfalls ein hervorragender Gelehrter in diesem Bereich. Die Vertreibung der Brüder von ihren Lehrstühlen schuf ihnen Muße, die Weidmann’sche Buchhandlung regte den Plan zu dem großen deutschen Wörterbuch an, welches zu einem Ereigniß in unserer Literatur werden sollte, und die preußische Regierung, welche die Brüder einige Jahre später an die Berliner Akademie der Wissenschaften berief, stellte das nationale Unternehmen, indem sie die beiden Arbeiter an demselben aus gedrückter Lage in eine ehrenvolle und sorgenfreie Stellung erhob, unter günstige Sterne.

Volle vierzehn Jahre währten die Vorbereitungen, welche die gewaltige Arbeit erforderte. Dafür aber erkannte man auch in dem Werke, als im Sommer 1852 seine erste Lieferung erschien, eine Schöpfung, welche in ihrer Art einzig auf dem Felde der Sprachwissenschaft dasteht und in keinem Wörterbuch der Welt – das große Dictionnaire der französischen Akademie nicht ausgenommen – auch nur entfernt ihres Gleichen hat. In der That, nur Deutsche konnten sich eine solche Aufgabe stellen, die so Ungeheures umfaßte und so tiefes Eindringen in ihren Gegenstand forderte. Nur Deutsche konnten ihrer Sprache einen Tempel errichten, der gleich den großen Nationalheiligthümern der Hellenen so ganz ihr innerstes Wesen widerspiegelte. Nur deutscher Fleiß war im Stande, einen Bau hinzustellen, der unter Werken seiner Art – wir fürchten nicht zu übertreiben – alles Andere in dem Maße überragt, wie die Gruppe der großen Pyramiden alle anderen Gebäude unter der Sonne. Und dabei bargen diese Pyramiden nur Leichname von Königen und waren nur riesige Aufschichtungen todter Steine, während das Wörterbuch der Grimm die lebendige Seele des deutschen Volkes birgt und jeder Stein zu seinem Bau, jedes einzelne Wort ein Reflex dieser Seele ist.

Der Plan, nach welchem die Meister mit ihren Gehülfen und Nachfolgern bauten, ist in der Kürze folgender. Es sollte ein Bild von dem Leben unserer Sprache seit Luther geschaffen werden. Was durch ihn, dessen Auftreten auch auf diesem Gebiet den Beginn einer neuen Zeit bezeichnet, und was seit ihm, bis auf unsere Tage, an Wörtern neu entstanden oder verändert worden ist, sollte wiedergegeben, der gesammte Bildungsgang der deutschen Nation, soweit er sich in der Sprache ausgeprägt hat, sollte dargestellt werden. Es ist also nicht die Sprache einer bestimmten Zeit, deren Reichthum an Wörtern, Wortformen, Sprüchwörtern und dergleichen mehr und deren Art zu denken und zu empfinden aufgezeichnet werden sollte, um, wie das bei Abfassung des Wörterbuchs der Pariser Akademie die Absicht war, als Gesetzbuch der Rede- und Schreibweise der Nation zu dienen, sondern die Verfasser stellten sich die höhere Aufgabe, den ganzen unermeßlichen Organismus unserer Sprache in seinem Werden, in seiner flüssigen Bewegung und in seinem Lauf durch die Jahrhunderte ihrem Volke anschaulich zu machen. Jedes Wort von Wichtigkeit für diesen Zweck sollte seine besondere Geschichte haben, in welcher die Abstammung und Familie desselben, sowie seine Bedeutung und die Veränderungen und Abschattirungen der letzteren, die es in dem Laufe der Zeiten erfahren, übersichtlich vor Augen gelegt werden sollten.

Hier ist der Ort, einen Blick in die Gelehrtenwerkstätte zu thun, in der das Wörterbuch entstand und noch jetzt weitergeführt wird. Zu jenem Zweck bedurfte es umfassender, möglichst vollständiger Sammlungen: jedes einzelne Wort war aus der Gegenwart bis in die Zeit Luther’s zurück zu verfolgen, und das war wieder nur möglich, wenn man sein Vorkommen und die Art seiner Anwendung bei den zahlreichen deutschen Schriftstellern von größerer oder geringerer Bedeutung genau beobachtete, welche seit der Reformationszeit aufgetreten sind. Ein solches Unternehmen aber überstieg selbstverständlich die Arbeitskraft eines Einzelnen, auch wenn er davon so viel besaß und schon ein so gewaltiges Material beisammen hatte wie Jakob Grimm, dessen Forschungen unbewußt seit dem ersten Tage seiner Gelehrtenthätigkeit Vorarbeit für sein letztes großes Werk gewesen waren. Es war die Hülfe von sehr Vielen nöthig, und schon die Organisation dieser Ergänzungsthätigkeit ist so merkwürdig und namentlich so charakteristisch für das schöne Leben in der deutschen Wissenschaft, daß sie der ausführlichen Schilderung werth scheint.

Die Brüder Grimm schrieben durch ganz Deutschland an ältere und jüngere Männer und forderten sie auf, einzelne Schriftsteller für das Wörterbuch durchzulesen und auszuziehen. Von allen Seiten antwortete bereitwilliger Fleiß, Andere boten sich selbst zu dieser Mitarbeit an, und nicht ohne freudige Verwunderung erfuhr man später, daß Männer aus den verschiedensten politischen und gesellschaftlichen Lagern, Großdeutsche und Kleindeutsche, Liberale und Conservative, Wolf und Lamm, Vilmar neben Hoffmann von Fallersleben, Schweizer und Schwaben neben Ostpreußen und Hannoveranern, einträchtig an dem großen nationalen Werke mitgewirkt hatten. Die Vorrede, mit welcher Jakob Grimm die erste Lieferung desselben in die Welt gehen ließ, nennt dreiundachtzig Namen, das erste Verzeichniß der Quellen, aus denen sie schöpften, umfaßt vierundzwanzig, ein zweites elf, ein drittes acht Spalten engen Drucks. Unter den Mitarbeitern befinden sich etwa ein Dutzend Professoren, einige Prediger, ein Arzt; alle Uebrigen, eine Dame, Malchen Hassenpflug in Cassel, ausgenommen, sind Philologen; Rechtsgelehrte sind nicht darunter.

Die Thätigkeit dieser Gehülfen wurde methodisch geregelt. Jeder erhielt eine genaue Anweisung. Auf Zettel von vorgeschriebener Höhe und Breite sollte er jedes Wort verzeichnen, welches ihm bei langsamem und sorgfältigem Durchlesen des ihm zugetheilten oder von ihm selbst gewählten Schriftstellers aus irgend einem Grunde merkwürdig erschiene, nicht nur beim Gebrauch in ungewöhnlicher Bedeutung, sondern auch, wenn die Anwendung desselben irgendwie charakteristisch wäre, oder die Stelle, an welcher das Wort vorkam, sich leicht verständlich aus dem Zusammenhang der Rede lösen ließe. In allen derartigen Fällen sollte das betreffende Wort und darunter die Phrase oder der Vers, worin es stand, auf den Zettel geschrieben werden.

Nun ging Alles mit rüstiger Liebe zur Sache an’s Werk. Nach einiger Zeit langten von Süden und Norden, Osten und Westen Pakete kostbarer Zettel an, alle von gleicher Höhe und Breite, jeder mit einem merkwürdigen Citat beschrieben. Sie erschienen mit allerlei Fahrgelegenheiten und in den verschiedensten Reisekleidern, in Schachteln, Kasten und Koffern, bisweilen in alten Cigarrenkisten. Wie ein kleiner Berg thürmte sich so allmählich das Material auf, so daß auch einem sehr unternehmenden Gelehrten vor der Bewältigung dieser Auszüge hätte bange werden können. Nicht allen Einsendern war derselbe beharrliche Fleiß eigen gewesen. Von den Fleißigen die Fleißigsten waren Fallenstein in Heidelberg, Hartenstein, damals in Leipzig, Riedel in Göttingen, Schrader in Hörste, Weigand in Gießen. Als den Allerfleißigsten und Einsichtigsten aber rühmt Jakob Grimm den vor zwei Jahren als Rector der Dresdner Kreuzschule verstorbenen Klee, dem die Aufgabe zugefallen war, Goethe’s Werke für das Wörterbuch auszuziehen.

Es kam nun zunächst darauf an, in diese Masse von Zetteln die Ordnung zu bringen, in der sie für die Verfasser des Wörterbuchs ohne Aufenthalt verwendbar waren mit andern Worten, sie mußten sortirt werden. Wie groß ihre Anzahl war, ist nicht festgestellt worden, man wird aber kaum zu viel annehmen, wenn man sie auf eine Million veranschlagt. Zwei Männer hatten sechs Monate hindurch von früh bis spät zu thun, dieselben nach dem Alphabet zu vertheilen, die Belege zu jedem Wort auf einander zu legen, sie mit Bindfaden vor dem Auseinanderfallen zu sichern und schließlich den ganzen Schatz in zwei riesigen Wandschränken für die Verarbeitung zu deponiren, bei der sie die größere oder geringere Fülle des Inhalts der betreffenden Wörter bestimmen und deren Formen in den verschiedenen Zeiten und Landschaften finden halfen.

Die Schriftsteller, die für das Wörterbuch ausgezogen wurden, umfaßten, wie angedeutet, die Periode unserer Entwickelung, welche durch den Anfang des sechszehnten und die ersten drei Decennien des gegenwärtigen Jahrhunderts begrenzt wird. Nach Goethe und Schiller sind noch Tieck und Kleist, die Bettina, auch Gutzkow, Lenau, Jeremias Gotthelf, Auerbachs Dorfgeschichten und einiges Andere benutzt, so daß auch die Veränderungen, welche die deutsche Sprache in der allerneuesten Zeit erfahren hat, Berücksichtigung gefunden haben. Am wichtigsten waren natürlich diejenigen Autoren, deren schöpferische Kraft auch die Sprache

mächtig fortgebildet hat, insbesondere wenn in ihnen das unmittelbare

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 198. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_198.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)