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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

gepreßter Stimme. „Ich wollte den armen Vertriebenen - eine Heimath geben und ihr Leben sorgenfrei machen!“ –

„Sehr großmüthig, meine Tochter,“ spottete der Minister, „wenn auch ein wenig tactlos, da ich es bin, der sie ‚vertrieben‘ hat, wie Du beliebst Dich auszudrücken.“

„O liebe Gräfin, haben Sie sich wirklich durch das Lügengewebe bethören lassen?“ rief Frau von Herbeck.

Bei diesen Tönen voll Hohn und Haß brach die mühsam behauptete Fassung des jungen Mädchens zusammen.

„Das Lügengewebe?“ wiederholte sie, und ihre Augen flammten. „Die Frau sprach die Wahrheit!“ fuhr sie entschieden fort. „Da war auch nicht ein Wort, das mich nicht bis in’s innerste Herz getroffen hätte! … Wie kindisch lenksam und unerfahren bin ich bis jetzt gewesen! Ich habe Menschen und Dinge mit Ihren Augen angesehen, Frau von Herbeck – ich war denkfaul und blind! Das ist ein bitterer Vorwurf, den ich mir machen muß! –“

Sie schwieg plötzlich, ihre Lippen legten sich fest aufeinander. Sie hatte einen tiefen Abscheu vor aller aufbrausenden Heftigkeit – und jetzt strömten ihr die Worte über die Lippen, ihr Klang fiel zündend auf ihr Herz zurück und riß sie fort – das durfte nicht sein. Sie preßte einen Moment die schmalen Hände gegen die Schläfe, dann ergriff sie ihren Hut.

„Papa, ich fühle, daß ich aufgeregt bin,“ sagte sie mit ihrer süßen Stimme, in welcher bereits der sanfte Klang wieder vorherrschte. „Darf ich mich ein wenig in den Wald zurückziehen?“

Der Minister schien mit der „gereizten“ Stieftochter dieselbe Nachsicht zu haben, wie einst mit dem kranken Kind. Er hatte sie mit keinem Wort, keiner Bewegung unterbrochen, und jetzt winkte er ihr väterlich gütig und gewährend mit der Hand.

Sie schritt über die Wiese in den Wald hinein.

„Sie sind alt geworden, Frau von Herbeck!“ sagte Seine Excellenz beißend und schonungslos zu der erbleichenden Gouvernante, als das blaue Kleid hinter dem Gebüsch verschwunden war. „Da machen sich andere Zügel nöthig! …“


15.

Gisela schritt am Seeufer hin. Sie hielt den Strohhut in der rechten, während ihre linke Hand mechanisch das niedrige, elastische Ufergebüsch durch die Finger gleiten ließ. Der schwache Morgenwind, der das blonde Haar der jungen Dame leise hob, kräuselte auch die sonnenfunkelnde Wasserfläche – sie schien besä’t mit zahllosen, flatternden und pickenden goldenen Vögeln.

Droben huschte der scheue, gelbglänzende Kirschpirol durch die Aeste und flötete einzelne abgebrochene Cadenzen – auch ein erschrockener Frosch, der seinen fleckigen Leib auf einem der weißgebleichten Uferkiesel gesonnt hatte, plumpte klatschend in’s Wasser – sonst war es lautlos ruhig auf dem See und in den Wipfeln, und nur die schwarze Hummel, den kleinen, zottigen Pelz voll gelben Blüthenstaubes, zog durch das hohe, geschonte Ufergras, und ihr monotones Surren und Summen machte die Waldstille noch traumhafter.

Die braunen Augen der jungen Dame blickten finster – sie hielt Einkehr in sich selbst. Die einfache Pfarrersfrau hätte kräftig an dem Boden gerüttelt, auf dem sie bis jetzt selbstbewußt, mit festem Fuß gestanden. … Sie hatte, so lange, sie denken konnte, nur mit dem kalten, erwägenden Verstande gelebt. War ja einmal das Herz zum Durchbruch gekommen, dann hatten die drei Menschen, die sie eben auf der Waldwiese verlassen, sofort den Schatten der Großmama heraufbeschworen, und mit der Erziehungsdevise: „Es schickt sich nicht für Dich!“ war der Riegel vor die aufbrechende Gefühlswelt geschoben worden.

„Der Geist in Neuenfeld geht mit der Liebe zusammen, die das Christenthum zu allererst predigt!“ hatte die Pfarrerin gesagt – das war’s! … Nahezu achtzehn Jahre hatte das junge Mädchen gelebt und nie einen Menschen lieb gehabt! In ihrer Großmutter hatte sie zu allen Zeiten den Inbegriff der Erhabenheit verehrt, aber niemals war ihr als Kind das Verlangen gekommen, die kleinen Arme um den schönen, weißen Hals der stolzen Frau zu legen – jetzt noch schlug ihr das Herz ängstlich bei dem Gedanken, wie wohl eine solche „Zudringlichkeit“ würde aufgenommen worden sein. … Und wie sie sie der Reihe nach musterte, mit denen sie ausschließlich ihr junges Leben verbringen mußte – Seine Excellenz mit dem eiskalten Gesicht und undurchdringlichen Blick, die schöne Stiefmutter, die kleine, fette, fromme Frau, den Arzt, Lena – da schauerte sie selbst unter der tödtlichen Kälte und Feindseligkeit, mit denen sie ihnen stets und immer gegenüber gestanden – und das wurde nie anders! …

Denkfaul und blind hatte sie sich selbst genannt, und mit allem Recht. … Sie hatte ihren Puß zärtlich geliebt, sie konnte eine schöne Blume inbrünstig an ihre Lippen drücken – nie aber war die Betrachtung in ihr aufgestiegen, ob es wohl auch Menschen gäbe, die man so lieb haben könne … Ganz von selbst, fast zu ihrem eigenen Erschrecken, war die unbekannte Knospe in ihrem Gemüth vor wenig Augenblicken gesprungen – sie hätte an das Herz der kraftvollen, muthigen Frau flüchten und sie bitten mögen: „Habe mich auch lieb!“

In Neuenfeld waltete die Liebe. Sie baute den Bedürftigen Häuser, gab ihnen geistige und leibliche Nahrung und machte ihr Leben sonnenlicht; sie nahm die Verwaisten schützend in ihre Arme und ersetzte ihnen Vater und Mutter – und der diese Liebeswerke auf deutschem Boden schuf, er war ein Fremder – und sie, die reiche Erbin, fuhr täglich an den elenden Baracken ihrer Greinsfelder Gutsangehörigen, an den zerlumpten, verwilderten Kindern der letzteren vorüber, ungerührt, in der von Kindesbeinen an fest eingeprägten Ueberzeugung, daß es so und nicht anders sein müsse.

Der Mann im Waldhause mit der finsteren Stirn und den räthselhaften Augen hatte Recht, wenn er sie verachtete, wenn er das durch die Gouvernante in ihrem Namen hochmüthig gebotene winzige Scherflein mit dem Fuße fortgestoßen.

Gisela blieb einen Moment wie athemlos stehen – eine Feuerflamme schlug über ihr Gesicht, und ihr Herz klopfte so stürmisch, daß sie meinte, es hören zu können. … Sie dachte an jenen Augenblick, wo er scheu vor ihr zurückgewichen war, um ihres vermeintlichen Gebrechens willen – sie dachte an die sprachlose Bewunderung, mit der sein Auge an dem schönen Gesicht der Stiefmutter gehangen hatte. …

Sie schritt längst nicht mehr am Ufer hin – die tiefe Waldesnacht hatte sie umfangen. Der Pirol schwieg, und die surrenden Hummeln waren an den Blüthenkelchen des sonnigen Ufers hängen geblieben. Weit, weit, da drüben lag die kleine Lichtung mit dem silberschimmernden Frühstückstisch und den Menschen, die jedenfalls noch zu Gericht saßen über das unschickliche Benehmen der Gräfin Sturm.

Plötzlich hob das junge Mädchen den nachdenklich gesenkten Kopf und horchte – das Weinen eines kleinen Kindes drang, wenn auch aus ziemlich weiter Entfernung, zu ihr herüber. Es klang so verlassen und hülflos, so ununterbrochen, als fehle eine beschwichtigende Stimme gänzlich.

Gisela nahm ohne Weiteres ihr Kleid zusammen und drang quer durch das Dickicht, dem Schalle nach. Sie kam an den Holzweg, der von Neuenfeld nach A. führte – und da kauerte ein Weib mit geschlossenen Augen, in todtenähnlichem Zustande, am Stamm einer Buche.

Es war eine jener armen sogenannten Porcellanfrauen, die Jahr aus, Jahr ein nach Brod gehen müssen. Sie kaufen den Ausschuß in den Porcellanfabriken hoch auf dem Thüringerwald um ein Billiges und schleppen die Last oft viele Meilen weit in’s Land hinab, um sie unten gegen kärglichen Gewinn wieder zu verhandeln. Den schweren Korb, auf dem Rücken, das kleinste Kind auf dem Arm, und öfter auch noch ein größeres an der, Hand, wandern die armen Kreuzträgerinnen mit wunden Füßen durch Wind und Wetter – elender noch als das Lastthier; denn sie leiden nicht allein sie sehen ihre Kinder frieren und hungern. …

Die Frau war offenbar aus Erschöpfung ohnmächtig geworden. Der Korb mit dem Geschirr stand neben ihr, und der kleine Schreihals, ein Bübchen von vielleicht acht Monaten, hockte auf ihrem Schooße. Die Augen des Kindes waren vom Weinen dick verschwollen, aber seine heiser geschrieene Stimme schwieg sofort, als Gisela neben die Frau trat.

Die junge Dame sah mit angstvollen Augen auf die Bewußtlose und nahm bebend die kalten, schlaffen Hände zwischen die ihrigen. … Hier sollte und mußte sie Hülfe schaffen – aber wie? … Da stand kein vielseitiger, gewandter Lakai in der Nähe,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 211. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_211.jpg&oldid=- (Version vom 15.12.2017)