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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

ärmsten und von der Natur am stiefmütterlichsten behandelten Theils von Rügen, von denen auf Hiddensöe, dem an der Nordwestküste der Insel langhingestreckten sand- und haidereichen Eilande, ihre reizlose Heimath „dat söte Länneken“ – das süße Ländchen – genannt wird, so klingt dieser Ausdruck doch so nach dem Herzen aller Rügen’schen Leute, daß wir ihn für die ganze Insel und mit demselben Recht für jeden andern Theil derselben anwenden dürfen.

Sage und Volksglaube halten an der Ansicht fest, daß Rügen einst mit dem pommerschen Festlande ein Ganzes gebildet habe. Die Naturforschung widerspricht dem nicht, wenn es auch nicht die Cimbrische Fluth allein gewesen sein sollte, welche die Trennung entschied, die vielen Buchten und Meerbusen in das Land hineinriß und dem Meer die Wege bahnte, um die Binnenseen auszufüllen, welche die Gestalt der Insel in das wunderliche Bild verwandelten, das sie uns heute zeigt. Ein Blick auf die Landkarte von Rügen läßt uns einen festen Kern von einer Reihe von Außengliedern unterscheiden, welche mit diesem nur durch schmale Landzungen in Verbindung stehen. Seltsamerweise bieten gerade diese Halbinseln dem naturwunderseligen Wanderer die sehenswürdigsten Reiseziele. Die nördlichste ist Wittow mit dem sagenreichen Felsenwall Arcona, unter welchem das Meer vergeblich im ewigen Kampf gegen das Land tobt. Sie streckt einen Arm nach Südosten aus, und der reicht bis zur Halbinsel Jasmund. Hier geht dem Freund der Wälder das Herz auf. Von den westlichen Ebenen nach Osten hin aufsteigend schmückt der frischeste Buchenkranz noch die Kreidefelsen des kühn aufragenden Strandes und beschattet die Stätten, wo germanische und slavische Götter sich ihrer Heiligthümer freuten, wo die Herthaburg gestanden und wo der Königsstuhl auf Stubbenkammer thront und auf das Meer hinabzeigt, auf welchem vor unseren Augen und nach Jahrhunderten zum ersten Male wieder deutsche Kriegsschiffe mit dem Dänen um den Sieg rangen.[1] Und im Südosten endlich legt, aus den Wäldern der Granitz sich herausdehnend, die Halbinsel Mönchgut ihren Handschuh mit dem Daumen und drei Fingern auf die tückische Ostsee. Hier aber wollen wir bleiben, denn Mönchgut ist es, dem wir heute einen besonderen Besuch abstatten.

Die Männer von Mönchgut behaupten, daß sie vor allen anderen Rügenern Ursache hätten, der Tücke der See zu grollen und sich in deren Dienst schadlos zu halten. Es geht bei ihnen nämlich die Sage, ihr Land sei vor Zeiten von Pommern nur durch ein schmales Wasser getrennt gewesen, über welches man auf hineingeworfenen Pferdeschädeln und Steinen sicher habe gehen können. Da sei die große Sturmfluth von 1309 gekommen, habe den größten Theil ihres Landes abgerissen und durch den Rügener und Greifswalder Bodden den Stralsundern zu einem besseren Fahrwasser verholfen, als ihr Gellen, die Meerenge, welche sie von Rügen scheidet, vorher gewesen. Die Greifswalder Oee und die Insel Ruden sehen sie für Trümmer ihres Gebietes an. Und nicht genug mit dieser Absperrung vom Festland: als sie Eigenthum des Klosters Eldena bei Greifswald geworden waren – woher der Name „Mönchgut“ stammt, denn vorher hieß das Ländchen Reddewitz, wie jetzt nur noch der längste westlichste Finger des Handschuhs genannt wird –, da gebot ihnen der Abt, damit der geistliche vom profanen Boden der Insel für alle Zeit deutlich geschieden sei, am schmalsten Theil der Landzunge, durch welchen dieselbe nördlich mit der Granitz zusammenhängt, einen tiefen Graben zu ziehen, den Mönchsgraben, den die lange protestantische Zeit noch heutzutage nicht ganz geebnet hat. Dieser klösterlichen Abgeschlossenheit verdankt jedoch die Bevölkerung von Mönchgut jene Eigenthümlichkeiten in Sitten und Gebräuchen, welche sie vor allen anderen Rügenern auszeichnen und die so tief gewurzelt sind, daß selbst die nivellirenden Wogen der Gegenwart ihnen noch wenig anhaben konnten.

Der Wunsch, dieses interessante Völkchen von Angesicht zu Angesicht kennen zu lernen, ist mir, allerdings schon vor einem Dutzend Jahren, bei Gelegenheit eines Besuchs in Stralsund in Erfüllung gegangen. Ein wackerer Freund hatte damals hinter meinem Rücken eifrig für möglichst vollständige Erfüllung meines Wunsches gesorgt, indem er bei Befreundeten drüben sich erkundigte, ob nicht eine Hochzeit in naher Aussicht stehe. Ich kenne seine Festigkeit; er würde meine Abreise wochenlang verzögert haben, um seinen Zweck zu erreichen. Nun kam’s Hals über Kopf, meine von ihm angeordnete „Präparation“ nach Grümbke’s bekannten trefflichen Werken über Rügen war noch nicht zur Hälfte beendet, da schob er mir einen offenen Zettel als Empfehlungsbrief in die Hand, die Bücher ins Ränzel und mich zur Thür hinaus. „Nun reise! Fahr’ wohl!“

Seitdem Rügen nicht blos für alle diejenigen Norddeutschen, welche daheim nie der Anblick eines Berges erhebt, sondern auch für die Mitteldeutschen bis nach Thüringen hinauf und in’s Erz- und Riesengebirge hinüber, wenn sie sich nach dem Meere sehnen, zu den jährlich besuchter gewordenen Reisezielen gehört, ist der Weg von Stralsund nach Mönchgut kein Geheimniß mehr. Ich fuhr von Alte Fähre auf Rügen im Postwagen nach Putbus. Unterwegs auf der herrlichen Fahrt durch die Insel (deren Beschreibung, ebenso wie die von Putbus, als nicht zu unserer Aufgabe gehörig, mir erlassen werden muß) fand sich ein Gesellschäftchen zu einer Wasserpartie von Lauterbach, der Badestätte von Putbus, nach Groß-Zicker, einem Kirchdorf auf der mittelsten der drei südlichen Landzungen von Mönchgut, zusammen, dem ich mich natürlich anschloß.

Am anderen Morgen fanden wir uns, verabredetermaßen, in Lauterbach, und nach einem erfrischenden Bad und stärkenden Frühstück bestiegen wir, fast zu einem Dutzend Männlein und Fräulein angewachsen, bei willkommenstem Wind und lachendem Himmel das kleine Segelboot. Nach etwa dreistündiger überaus köstlicher Fahrt lag die dritte Landzunge von Mönchgut mit dem Dorfe Thissow gerade vor uns und links öffnete sich der Zickersee, der uns zu unserem Ziele führen wird.

„Was bedeutet die Flagge bei Thissow?“ fragte eine der liebenswürdigen Damen.

Ah, wie kam mir nun meine Präparation zu Gute! Ohne den Verräther aus dem Ränzel zu ziehen, docirte ich getreu nach Grümbke: „Am Ostufer der Halbinsel dort drüben liegen drei Dorfschaften, welche allein das Recht der Lootserei haben. Diese drei Lootsendörfer heißen: Göhren, Lobbe und Thissow. Da die Passage durch die Meerenge zwischen Pommern und Rügen für die nach Wolgast, Greifswald oder Stralsund segelnden Kauffahrteischiffe wegen vieler seichter Stellen und Sandbänke unsicher ist, so müssen alle diese Schiffe für diesen Weg sich der Führung eines Piloten aus jenen drei Dörfern fügen. Der Ordnung und des Friedens wegen lassen die drei Dörfer das Lootsenrecht Reihe um gehen, und die Flagge dort bedeutet demnach, daß heute Thissow den Lootsen zu stellen hat.“

In Groß-Zicker trennte ich mich von der Gesellschaft, die vor Allem die hinter dem Pfarrhause sich erhebenden Hügel besteigen und dann zu Wagen weiter streben wollte. Mein einziges Augenmerk waren von jetzt an die Mönchguter Leute. Ihretwegen schritt ich in die Schenke und durch die Dorfgassen, blieb vor jeder Hausthür, vor jeder Gruppe, vor jedem Kinde stehen, verglich im Kopf alles Erschaute mit meinem Grümbke im Ränzel und schwenkte endlich zum Orte hinaus, um noch Middelhagen zu guter Zeit zu erreichen.

Das, was von den Eigenthümlichkeiten dieses Völkchens zunächst auffällt, die Tracht, hatte einen eigenen Eindruck auf mich hervorgebracht. Die vorherrschende Dunkelfarbigkeit der Kleidung bei beiden Geschlechtern erinnerte allerdings an etwas Klösterliches.

Die Mannsleute tragen schwarze Jacken mit schwarzen Knöpfen, von einem selbstgemachten Zeuge, welches Dreiling (Drillich, Drell) genannt wird, ferner ein oder auch zwei Paar kurze wollene Kniehosen und darüber sehr weite und etwas längere Pump- oder Fischerhosen, für gewöhnlich von weißer Leinwand, für feierliche Gelegenheiten ebenfalls schwarz. Ihre Kopfbedeckung ist daheim die Zipfel-, außerdem die Seemannsmütze und an Sonn- und Feiertagen ein niedriger schwarzer Filzhut mit breitem, über die Krämpe hängendem Band. Auch die Strümpfe sind von schwarzbrauner Wolle, und die Schuhe werden, statt mit blanken Schnallen, mit Senkeln oder Riemen befestigt.

Von demselben ehrwürdigen Alter und Aussehen sind die weiblichen Trachten. Frauen und Mädchen kleiden sich in schwarze Röcke und vorne zugeschnürte Mieder aus einem ebenfalls selbstgewebten Wollenzeuge, das sie „Warp“ nennen; die Röcke sind kurz und in unzählige Falten gelegt und die Mieder der Jungfrauen mit blanken Flittern benäht. Das wahre Kennzeichen der Mönchguterinnen ist ihr Kopfputz; er besteht aus einer Haube von feiner

weißer Leinwand, über welcher eine schwarze, oben kegelförmig zugespitzte


  1. Am 17. März 1864.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 214. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_214.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)