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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

No. 15.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Reichsgräfin Gisela.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


„Hüten Sie sich, Herr!“ rief Sievert und legte seine Hand ohne Weiteres warnend und zurückhaltend auf den Arm des Portugiesen. „Das ist sie, wie sie leibt und lebt! … Es fehlt nur die kleine rothe Schlange am Halse – sonst steht sie wieder da mit dem weißen Gesicht und den langen Haaren, die elende Erbschleicherin! …. So hob sie auch die Hände, und – mein Herr war ein verlorener Mann! … Sie freilich modert, und ihre fluchwürdigen Hände können kein Unheil mehr anrichten – aber ihre Brut lebt fort!“ – Er zeigte auf das todtenbleiche junge Mädchen – wie eine der alttestamentlichen Gestalten, die den Fluch ihres Gottes herabbeschwören, stand der alte Mann mit dem finster dräuenden Gesicht auf der Terrasse. „Sie ist nicht um ein Haar besser,“ fuhr er mit erhobener Stimme fort; „ihr Herz ist kieselhart! Sie ist gefühllos wie ein Stein gegen ihre Leute und fragt den Henker danach, ob die Menschen um sie her vor Hunger wie die Mücken umfallen! … In Greinsfeld und Arnsberg wird für die Armen gebetet, aber sie satt zu machen, das fällt Niemand ein! … Herr, lassen Sie sie nicht über die Schwelle! Wo das Geschlecht seinen Fuß hinsetzt, da geht Unheil auf!“

Die junge Gräfin schlug die zitternden Hände vor das Gesicht und floh, aber schon nach wenigen Schritten fühlte sie sich zurückgehalten – der Portugiese stand vor ihr und nahm ihr die Hände sanft vom Gesicht.

Er schrak zurück vor dem blutlosen Mädchengesicht, das die Augen in Schmerz und Entsetzen zu ihm aufschlug. Vielleicht fühlte er für einen Augenblick Erbarmen – er hielt ihre Hände mit pressendem Drucke fest und zog sie jäh gegen sich, als wolle er sie schützend an seine Brust nehmen – aber genau mit demselben scheuen Zurückweichen, wie vorhin auf der Waldwiese, ließ er sie rasch wieder sinken.

„Sie hatten einen Wunsch, Gräfin; ich sah es an Ihrem Gesicht!“ sagte er mit unsicherer Stimme. „Darf ich ihn nicht mehr hören?“

Gisela hüllte ängstlich die verabscheuten Hände in die Falten ihres Muslinkleides.

„Im Walde liegt eine arme Frau,“ flüsterte sie tonlos. „Sie ist wahrscheinlich vor Erschöpfung umgesunken – ich kam an dies Haus, um Hülfe für sie zu suchen.“

Dann schritt sie mit niedergeschlagenen Augen an ihm vorüber – dem Walde zu. … Sie war vernichtet – die Beschuldigungen des alten Mannes hatten sie wie Keulenschläge[WS 1] getroffen …

War das dieselbe junge Dame, die vorgestern mit stolzem Nachdruck alle ihre hohen Titel hergezählt und mit ihnen betont hatte, daß sie unter allen Umständen die Hochgeborene bleibe? … Wo war das stolze Blut der Reichsgrafen Sturm und Völdern, das ihr eben noch überwältigend nach den Schläfen gebraust war und ihrem Gesicht den Ausdruck hochmüthiger Verachtung ausgeprägt hatte? – Seine Elemente bestanden aus Ehrbegier, Herrschsucht und Egoismus – es bäumte sich gegen jegliche äußere Verletzung seiner Hauptthesen – aber der edlen Sprache des Gewissens gegenüber schwieg es und sank mit all’ seinem hohlen Phrasenthum kläglich zusammen.

Die arme Frau war während Gisela’s Abwesenheit zum Bewußtsein gekommen; sie sah die zurückkehrende junge Dame mit vollem Verständniß an, aber sprechen konnte sie noch nicht und war außer Stande, sich zu erheben. Den kleinen Jungen hatte es jedenfalls beschwichtigt, die Augen der Mutter offen zu sehen – er schrie nicht mehr, sondern streichelte lallend und unbeholfen mit den dicken Händchen das blasse Gesicht des Weibes.

Gisela hörte Männerschritte vom Waldhause herkommen – sie wußte die Hülfe nahe, und nun wollte sie, ohne noch einmal den Kopf umzuwenden, weitergehen; denn bei aller Zerknirschung kam jetzt doch auch ein anderes Gefühl mächtig zum Durchbruch: der weibliche Stolz. … Und wenn auch der Neuenfelder Wohlthäter, der Menschenfreund, allen Grund hatte, sie zu verurteilen – er durfte doch nicht gestatten, daß sein Diener sie beleidigte. … Aber er hatte das furchtbare Anathem des schrecklichen alten Mannes mit keiner Silbe gerügt – es war offenbar zu sehr im Einklang mit seiner eigenen Anschauung gewesen, und obgleich ihn ein momentanes Bedauern überschlichen, er hatte doch die bittere Lehre für die hartherzige Gräfin Sturm ganz am Platze gefunden und sie in keiner Weise zu mildern gesucht.

Jetzt schwoll das Herz des jungen Mädchens in Bitterkeit, und von diesem Gefühl überwältigt, verließ es die Unglückliche in dem Moment, wo der Portugiese in Sievert’s Begleitung herzutrat. Der alte Soldat trug verschiedene Erquickungen auf einer Platte, aber kaum hatte das Kind das alte, finstere, bärtige Gesicht erblickt, als es auch gellend aufschrie und zitternd vor Furcht das Köpfchen an die Brust seiner Mutter drückte.

Gisela blieb erschrocken stehen – die Augen des hülflosen Weibes ruhten angstvoll auf ihr; sie verstand die stumme Bitte sofort und kehrte zurück. Einige Erdbeeren, die am Wege standen, pflückte sie und hielt sie dem Kinde hin – es lachte unter Thränen und ließ sich gutwillig von ihr auf den Arm nehmen. … Dieser

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Keulenschäge
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 225. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_225.jpg&oldid=- (Version vom 18.9.2021)