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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

er mit zuckenden Lippen, indem er versuchte, die rapportirende Haltung wieder zu gewinnen.

Gisela erblaßte.

Wie hatte der alte Mann auf der Terrasse des Waldhauses gesagt? „Ihr Herz ist kieselhart! Sie ist gefühllos wie ein Stein gegen ihre Leute!“ Der Unheimliche hatte zum Verzweifeln Recht gehabt! …. Da war nun der unglückliche Mensch täglich in seiner bunten Livree vor ihr erschienen, tadellos in Miene und Haltung, unverändert auch an dem Tage, da der kleine Liebling daheim im Sarge gelegen – immer des Winkes seiner Herrin gewärtig und jeder ihrer Launen sich unbedingt anbequemend – und währenddem hatten unter den devot gesenkten Augenlidern der armen Maschine verhaltene Thränen gefunkelt, und das Herz war fast vergangen im Weh! … Privatleiden durften diese Leute nicht haben dagegen erinnerte sich Gisela noch sehr gut, daß die Dienerschaft lange, lange Zeit die tiefe Trauer um ihre Großmama hatte zur Schau tragen müssen. … Was gab den Hochgeborenen das Recht, andere Menschen in eine so unnatürliche Stellung zu zwingen? … Sie reichten ein Stück Brod von ihrer kalten, isolirten Höhe herab und verlangten dafür eine völlige Hingabe des ganzen Menschen, eine so grenzenlose Selbstverleugnung, deren sie selbst nicht fähig waren. … Und sie hatte dies grausame Spiel des vollendeten Egoismus bisher mitgespielt – ja, sie galt für eine der Schlimmsten! …

Was ihr Gemüth an Innigkeit besaß, das floß jetzt über ihre Lippen – sie suchte den alten Mann zu trösten. … Aber der Sonnenschein in ihrer Seele war verflogen. Nun erst grübelte sie über die finsteren Anklagen des alten Soldaten, und während des ganzen Heimwegs suchte sie zu ergründen, mit welcher Verlorenen, deren „fluchwürdige Hände nun moderten“, er sie wohl verglichen habe! … Die Lösung des Räthsels lag ihr fern, fern! Wie hätte sie die weißen, wundervollen Hände der hochseligen Großmama mit dem gestifteten Unheil, wie ihre erhabene Erscheinung mit der „Erbschleicherin“ in Verbindung bringen können?

Verstimmt und verfinstert trat sie in das weiße Schloß.

Der Ameisenhaufen, der in Gestalt von Handwerkern, scheuernden und fegenden Mägden seit gestern eine sehr geräuschvolle Thätigkeit entwickelt hatte, schien jetzt in eine völlig fieberhafte Aufregung gerathen zu sein. Das unruhige Hasten und Treiben beschränkte sich nicht allein mehr auf den Fremdenflügel im Erdgeschoß, zu beiden Seiten des Vestibüls standen die Flügelthüren weit offen und ließen die ganze lange Flucht der Zimmer übersehen, in denen Tapezirer, Gärtner und Dienstfrauen beschäftigt waren.

Oben im ersten Zimmer, das die junge Gräfin betrat, stand Lena mit hochglühenden Wangen inmitten ganzer Berge von Wäsche und Kleidern und packte verschiedene Koffer – ein Gärtnergehilfe zerstörte die Blumentische, um sie neu zu besetzen, und das Tageslicht fiel blendend durch die hohen Fenster, von denen man die seidenen Gardinen behufs des Abstäubens weggenommen hatte.

Ehe noch Lena ihrer erstaunt auf der Schwelle verharrenden Gebieterin berichten konnte, trat der Minister in Frau von Herbeck’s Begleitung aus einer Seitenthür. Er war sehr echauffirt und hielt Bleistift und Notizbuch in den Händen, offenbar als Hülfsmittel in rasch eingetretenen, sich überstürzenden Geschäften.

„Ach, mein liebes Kind,“ rief er der jungen Dame entgegen – er ließ plötzlich das förmliche, eiskalte ‚meine Tochter‘ fallen und war ganz und gar wieder der zärtlich schmeichelnde Papa von ehedem – „mein Goldkindchen, in welch’ tödtlicher Verlegenheit bin ich Dir gegenüber! … Da telegraphirt mir der Fürst vor einer halben Stunde, daß er schon morgen Abend in Arnsberg eintreffen werde, und zwar mit einem weit größeren Gefolge, als er mir anfänglich angezeigt hat! … Ich bin ganz außer mir, denn ich sehe mich gezwungen … ach Gott, wie peinlich ist mir doch die ganze Geschichte!“ unterbrach er sich selber und fuhr, als wolle er die Widerwärtigkeit abwehren, mit der Hand durch die Luft.

Frau von Herbeck kam ihm bereitwillig und sehr geschickt zu Hülfe.

„Aber mein Gott, darüber sollten sich Excellenz doch nicht so alteriren!“ rief sie. „In solchen Dingen ist unsere Gräfin viel zu vernünftig!“ Sie wandte sich an die junge Dame, indem sie auf Lena deutete. „Sie werden sich denken können, um was es sich handelt, liebe Gräfin! … Bitte, beruhigen Sie Excellenz, den Papa, – Sie sehen, wie außer sich er ist, Ihre Abwesenheit von Arnsberg für einige Tage wünschen zu müssen! … Das Schloß ist viel zu klein und eng für die vielen Menschen – nicht wahr, wir gehen der ganzen geräuschvollen Zeit während des fürstlichen Besuchs aus dem Wege und fahren heute noch nach Greinsfeld?“

Gisela fühlte eine Art von Schrecken … warum wurde ihr plötzlich so weh um’s Herz bei dem Gedanken, Arnsberg verlassen zu müssen? – Wie ein Nebelbild, ihr selbst fast unbewußt, glitt das märchenumhauchte Waldhaus pfeilschnell an ihrer Seele vorüber.

„Ich bin jeden Augenblick bereit zu gehen, Papa!“ sagte sie trotzdem ruhig, in ihrer gelassenen Weise.

„Du siehst ein, mein Kind, daß ich nur der dringenden Nothwendigkeit nachgebe?“ fragte der Minister schmeichelnd.

„Vollkommen, Papa!“

„O, wie dankbar bin ich Dir, Gisela! … Aber nun setze auch Deiner Freundlichkeit und Nachsicht die Krone auf und entschuldige Mama und mich, wenn wir Dir heute nicht einmal ein Mittagsessen anbieten. Mama sitzt mit Mademoiselle Cecile unter Toiletten vergraben und hält großen Rath – sie wird auf ihrem Zimmer essen, und mir bleibt heute nicht so viel Zeit, mich auch nur an den Eßtisch zu setzen. … Ich habe Deinen Koch sofort nach Greinsfeld geschickt – Du findest bei Deiner Ankunft allen Comfort, der in der Eile eben möglich zu machen ist.“

„Nun, dann bleibt nur noch der Wagen zu bestellen,“ sagte das junge Mädchen. „Lena, wollen Sie so freundlich sein und hinuntergehen?“

Die Kammerjungfer erstarrte fast darüber, daß sie so „freundlich“ sein sollte – Frau von Herbeck aber blieb buchstäblich der Mund offen stehen, während sie einen vernichtenden Blick auf die „cajolirte“ Zofe schleuderte.

Gisela knüpfte unbefangen die Hutbänder unter dem Kinn und zog die Handschuhe wieder an, die sie beim Eintreten abgestreift hatte – das sah sehr eilfertig aus.

„Aber Du gehst selbstverständlich erst noch zu Mama, nicht wahr, mein Kind?“ fragte der Minister – er ignorirte die plötzliche humane Anwandlung der Stieftochter vollständig. „Denke doch, mein kleiner Liebling, der Fürst kann möglicherweise über acht Tage bleiben, und während der ganzen langen Zeit sind wir verurtheilt, Dich so nahe zu wissen, ohne Dich auch nur ein einziges Mal sehen zu dürfen!“

„Es steht Dir ja frei, eine Spazierfahrt nach Greinsfeld zu machen, Papa!“ meinte das junge Mädchen gelassen. „Frau von Herbeck hat mir erzählt, daß der Fürst zu Großmama’s Lebzeiten sehr oft in Greinsfeld gewesen ist.“

Die schlaffen Lider fielen plötzlich tief über die Augen Seiner Excellenz – seine bleichen Lippen aber verzogen sich zu einem spöttisch mitleidigen Lächeln.

„Liebchen, das ist wieder einmal die Idee eines Kinderkopfes!“ sagte er. „Was soll Seine Durchlaucht im Hause eines siebenzehnjährigen Backfischchens, – verzeihe, meine Tochter – das noch nicht bei Hofe vorgestellt ist –“

„Bei der Gelegenheit könnte es ja geschehen,“ fiel Gisela leicht erregt ein. „Großmama, die unerbittlich streng auf das Festhalten unserer Standesvorrechte und der damit verbundenen Pflichten gehalten hat, würde sich sehr wundern, daß es überhaupt noch nicht geschehen ist – sie war noch nicht volle sechszehn Jahr, als man sie bei Hofe vorgestellt hat.“

Der Minister zuckte mit einer eigenthümlichen Bewegung die Achseln – seine nähere Umgebung würde damit gewußt haben, daß Seiner Excellenz die Geduld ausgegangen sei – er blieb jedoch scheinbar gelassen.

„Ueberlege Dir selbst einmal, mein Kind, was für eine Rolle Du mit sechszehn Jahren am Hofe zu A. gespielt haben würdest!“ versetzte er kalt. „Uebrigens muß ich Dir gestehen, die Kühnheit überrascht mich einigermaßen, mit der Du Dich neben die Großmama zu stellen wagst! – die brillante, hochgefeierte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 242. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_242.jpg&oldid=- (Version vom 14.8.2016)