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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

brachte, welche an einen preußischen Officier gestellt werden und namentlich in damaliger Zeit gestellt wurden. Und dennoch waren die ihm zur Last gelegten Verbrechen nur hervorgegangen aus der Begeisterung für die Größe und Einheit des deutschen Vaterlandes, für dieselbe Größe und Einheit, zu welcher gegenwärtig bereits ein tüchtiger Grund gelegt ist und die, ob früher oder später, mit historischer Nothwendigkeit zur Wahrheit werden muß. Die Zeit mit ihrem versöhnenden Einfluß läßt auch seine Flucht in einem andern Lichte erscheinen, jedenfalls dürfte in allen Parteirichtungen die Schilderung eines Erlebnisses, welches den Anfang der Entwickelung eines bedeutenden Schriftstellers bildet, allgemeine Theilnahme erregen, insbesondere aber bei seinen frühern Cameraden, die trotz der politischen Gegnerschaft doch in Rüstow den ausgezeichneten Fachmann und Kritiker hochachten.

Rüstow wurde verhaftet und in Posen vor ein Kriegsgericht gestellt, vor welchem er sich selbst verteidigte und welches ihn von der Anklage des Hochverraths freisprach und unter Annahme eines geringeren Vergehens zu anderthalbjähriger Festungshaft verurtheilte. Dies Urtheil erhielt jedoch die Bestätigung nicht, und der Proceß wurde vor ein zweites, in Glogau niedergesetztes Kriegsgericht verwiesen, das über Rüstow wegen Hochverraths einunddreißigjährige Festungsstrafe verhängte. Während der Untersuchung wurde derselbe in Posen, und zwar in der dortigen Hauptwache, in Haft gehalten. Seine Flucht aus diesem Gefängniß war eine beschlossene Sache, noch ehe ihm das letzte verurtheilende Erkenntniß bekannt geworden, und diese Flucht, welche den Gegenstand dieser Zeilen bildet, ist mit solcher Kühnheit und solcher Energie ausgeführt worden, daß sie in ihrer Art als einzig dastehend betrachtet werden darf.

Die Hauptwache in Posen, ein zweistöckiges, ringsum freies Gebäude, liegt am Markt, dem belebtesten Theile der Stadt. Rüstow’s Zelle befand sich eine Treppe hoch, und vor der Thür seines Gefängnisses auf dem Corridor stand ein Posten, der speciell mit seiner Bewachung beauftragt war. Der allein mögliche Weg zur Flucht ging daher durch das einzige kleine, hoch über dem Fußboden befindliche Fenster der Zelle, durch welches man zunächst auf einen großen steinernen Balcon gelangt. Dieser Weg aber war ein höchst gefährlicher, und die Wahrscheinlichkeit, auf ihm sich zu befreien, eine sehr geringe, weil der Posten vom Corridor aus durch eine Glasthür den Balcon übersehen konnte und seiner Instruction gemäß viertelstündlich einmal auf denselben hinaustreten mußte. Rüstow’s Freunde riethen deshalb, zunächst den Weg der Bestechung zu versuchen; der Gefangene jedoch verschmähte es, auf diesen Vorschlag einzugehen, weil es ihm widerstrebte, Jemanden zu compromittiren und seinetwegen in Gefahr zu bringen; und gerade dieser Umstand ist es, welcher Rüstow’s Flucht vor allen gleichartigen Unternehmungen auszeichnet.

Es hatte daher sein Bewenden bei dem Wege durch das Fenster und über den Balcon. Trotz aller Wachsamkeit war es gelungen, eine fast ununterbrochene Communication zwischen Rüstow und seinen zahlreichen Freunden in Posen herzustellen und zu unterhalten und ihm unbemerkt eine Säge zum Durchschneiden der eisernen Traillen und einen Strick von dreißig Ellen Länge zum Hinabklimmen zuzustellen. Nach einer mühevollen Arbeit gelang es dem Gefangenen, in dreißig Nächten der Aufregung und Angst, stets in Gefahr, von dem lauschenden Posten entdeckt zu werden, die Traillen zu durchschneiden, welche zwischen dem finsteren Kerker und der goldenen Freiheit standen. Um das bis hieher gelungene Werk den Augen seiner Wächter zu verbergen, verklebte er die Schnittflächen mit Wachs und befestigte die wankenden Traillen mit gekautem Brod. Laut getroffener Verabredung sollte der Fluchtversuch am 25. Juni 1850 gewagt werden; indessen kam er an diesem Tage noch nicht zur Ausführung, weil das erwartete Zeichen, daß draußen Alles in Ordnung sei, eines Mißverständnisses halber nicht gegeben wurde. Auch waren das andauernd schöne Wetter und der herrschende helle Mondschein dem Unternehmen keineswegs günstig. Der Gefangene sehnte mit tausend Gebeten Sturm und Regen herbei, jedoch vergeblich. Daß trotzdem die Flucht wenige Tage später bewerkstelligt wurde, ist als ein glücklicher Instinct anzusehen, denn, um noch einige Tage verzögert, wäre sie zur Unmöglichkeit geworden, weil Rüstow am 3. Juli zur Verbüßung der gegen ihn erkannten einunddreißigjährigen Freiheitsstrafe nach der Festung Glatz abgeführt werden sollte, was ihm damals noch unbekannt war.

Inzwischen war ein neuer Commandant von Posen ernannt worden, mit welchem der Gefangene aus früherer Zeit bekannt war. Derselbe besuchte Rüstow am Abend des 26. Juni und sprach sein Bedauern aus über das Wiedersehen unter den obwaltenden Verhältnissen. Anscheinend wohlwollend und um dem Gefangenen eine Abwechselung und Erholung zu gewähren, bot er demselben seine Equipage zu einer Spazierfahrt an, indem er ihn gleichzeitig für die schöne Aussicht vom Fort Winiary zu interessiren verstand. Rüstow nahm das Anerbieten dankbar an; allein der Wagen blieb aus. – Die Vermuthung liegt nicht allzufern, daß derselbe zur rechten Zeit, d. h. am 3. Juli, eingetroffen sein würde, um den Gefangenen, welcher sich einer großen Popularität erfreute, ohne Aufsehen aus der Hauptwache nach dem vor der Stadt gelegenen Fort Winiary und von dort nach Glatz zu befördern. Hiemit stimmt der Umstand überein, daß sich bereits seit dem 25. Juni eine Verschärfung der Wachsamkeit bemerkbar machte.

Aber trotzdem beschloß Rüstow, am 29. Juni auf alle Fälle, die Umstände seien günstig oder nicht, einen Fluchtversuch zu wagen. Laut Verabredung sollte der Flüchtling an der evangelischen Kirche einen Bekannten treffen und mit diesem zusammen das Thor passiren. Den wachthabenden Unterofficier auf der Thorwacht hoffte man leicht zur Oeffnung des Thors bewegen zu können. Vor dem Thor stand eine Briczka bereit – ein kleiner, in Polen gebräuchlicher Wagen von eigenthümlicher Construction – um den Flüchtenden ohne Verzug so weit zu entführen, wie zu seiner vorläufigen Sicherheit erforderlich war. Dies war der Fluchtplan; die Umstände indessen erzwangen eine ganz andere Ausführung.

Vom Mittag des 29. Juni ab war alle Communication zwischen dem Gefangenen und der Außenwelt unterbrochen, jedoch erhielt er das vorsichtiger Weise verabredete Zeichen, daß draußen Alles in Ordnung sei. Nachdem Rüstow wie gewöhnlich Abendbrod gegessen, begann er gegen zehn Uhr seine Vorbereitungen. Um das hochgelegene Fenster bequem erreichen zu können, legte er auf die unter demselben befindliche Pritsche seine Bettdecke und auf das Fensterbrett einige dicke Bücher. Auf diese stellte er einen kleinen Koffer, welchen letzteren er mit zwei Kopfkissen bedeckte. Alsdann kleidete er sich vollständig an bis auf die Stiefeln, die er, in ein Taschentuch gewickelt, zwischen den Traillen aufhing, und über denselben befestigte er einstweilen den Strick. Wie dem Gefangenen schien, war der Posten auf dem Corridor an diesem Tage besonders scharf instruirt. Derselbe stand horchend am offenen Flurfenster. Nachdem sich der Flüchtling hievon überzeugt hatte, nahm er die durchgesägten Traillen heraus und stellte sich, auf einen günstigen Moment wartend, an das Fenster. Gegen zehn und dreiviertel Uhr fuhr ein Wagen vorüber, und das durch das Rollen seiner Räder hervorgebrachte Geräusch benutzte der Flüchtende, um sich durch das Fenster zu schwingen und den vorerwähnten Balcon zu erreichen. Derselbe ist mit einer etwa sechs Fuß hohen Brustmauer umgeben, an welcher sich an der südlichen Seite der Hauptwache eine steinerne Wappendecoration befindet, welche mittels einer eisernen Stange an der Wand befestigt ist. An diese Stange band Rüstow seinen Strick an durch einen ihm ebenfalls zugesteckten, mit Leinwand umwickelten eisernen Haken und klomm an demselben mit aller Vorsicht empor bis auf die Brustwehr. Dort kauerte er sich nieder, um weitere Vorbereitungen zu treffen. Er knüpfte den Strick fester um die eiserne Stange, band sich das andere Ende desselben um den Leib und befestigte an gleicher Stelle die Stiefeln mit einem Taschentuch. Inzwischen schlug es elf Uhr, und der Posten vor dem Gewehr rief heraus. Der Flüchtling beschloß, vor seinem Hinabsteigen die Rückkehr der Ablösungen abzuwarten. – Am Tage hatte es geregnet, gegen Abend aber hatte sich das Wetter aufgeklärt; der Mond schien verzweifelt hell, und der Markt war belebt wie am Tage.

In dieser Situation verstrichen angstvolle Minuten. Jeden Augenblick konnte der Posten vom Corridor auf den Balcon treten, und die Flucht war für dies Mal und wahrscheinlich für immer vereitelt. Nachdem endlich um elf und einviertel Uhr die Ablösungen zurückgekommen waren und der Flüchtling noch eine kurze Zeit abwartend und lauschend hatte verstreichen lassen, warf er die Mitte des rettenden Strickes über die Brustwehr, schwang sich vollends über die Mauer und rutschte zwei volle Stockwerke hoch hinab. Unten angekommen, fuhr er heftig auf die auseinandergenommenen Bestandtheile von Schusterbuden, welche, dem Flüchtlinge

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 297. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_297.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)