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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

unbewußt, wegen des gerade stattfindenden Johannismarktes dicht an der Hauptwache aufgehäuft waren, und verursachte hierdurch ein nicht unerhebliches Geräusch. Er schritt indessen ruhig von dannen und wollte, nachdem er sich etwa fünfzig Schritte entfernt hatte, seine Stiefeln anziehen, bemerkte aber zu seinem Schrecken, daß er dieselben verloren hatte. Er kehrte deshalb nochmals um, doch alles Suchen war vergebens, denn die Stiefeln waren, wie sich später ergab, an einem eisernen Schornstein hängen geblieben, welcher sich, aus der Officierwachtstube kommend, unter dem Balcon befand und dessen Vorhandensein dem Flüchtlinge nicht bekannt war. Dieser mußte sich entschließen, im Uebrigen salonfähig gekleidet, in weißen Strümpfen durch die belebten Straßen zu schreiten. Er that dies mit aller Ruhe und ging durch die Breslauer Straße nach der evangelischen Kirche. Es war gerade Sonnabend, die Straßen waren gekehrt, und in denselben lagen noch die Kehrichthaufen. In drei derselben steckte der Flüchtling nacheinander seine Füße, um den sauberen weißen Strümpfen die allzuhelle Farbe zu nehmen. Bei der Kirche angekommen, traf ihn eine neue Verlegenheit, denn der Bekannte, welcher ihn dort erwarten sollte, war nicht da. Lange auf einem Fleck mit den immer noch weithin leuchtenden Strümpfen stehen zu bleiben, durfte er nicht wagen. Er entschloß sich deshalb kurz und schritt die Bergstraße hinab nach der Wohnung einer ihm befreundeten Dame, von welcher er aber nicht wußte, ob sich dieselbe in der Stadt oder auf ihrem Landsitze aufhalte. Er fand das Haus offen, trat ein und lauschte an verschiedenen verschlossenen Thüren, ohne jedoch das geringste Zeichen von der Anwesenheit Jemandes zu vernehmen. Da es gefährlich für ihn werden konnte, irgend welches Geräusch zu verursachen, schritt er durch die Bergstraße zurück nach der evangelischen Kirche. Dort angelangt, eilte auf fünf Schritte eine Patrouille bei ihm vorüber in der Richtung auf das Wilde Thor zu.

Bald darauf traf er auch den sehnlichst erwarteten Bekannten, welcher ihm ganz erhitzt und mit geflügelten Worten mittheilte, daß die Flucht bereits entdeckt, daß das ganze Wachtpersonal der Hauptwache um den herabhängenden Strick versammelt und daß Patrouillen nach allen Richtungen ausgesandt seien. Unter diesen Umständen mußte jeder Gedanke daran aufgegeben werden, noch heute das Thor passiren zu wollen. Was aber thun? – Wo in aller Eile einen sicheren Versteck auffinden? – Es schien am gerathensten, zunächst nach dem Hause jener Dame zurückzukehren. Rüstow’s jetziger Begleiter wußte zwar, daß dieselbe wirklich auf dem Lande sei, indessen wohnte in demselben Hause ein Freund von ihm, auf dessen Hülfe er rechnen durfte. Dieser Freund wurde herausgeklopft und vom Stande der Dinge unterrichtet. Hier erhielt Rüstow zur Abhülfe des nächsten Bedürfnisses ein Paar Schuhe, konnte aber dort nicht aufgenommen werden, sondern wurde durch Vermittlung jenes Herrn in einem dritten Hause bei befreundeten Personen vorläufig untergebracht, woselbst man ohne Vorwissen des Flüchtlings auf alle Fälle ein Asyl für ihn in Bereitschaft gehalten hatte. In diesem Hause blieben sämmtliche Personen, welche von den Umständen nach und nach zusammengeführt waren, die Nacht über in einem Parterrezimmer beisammen. Am nächsten Morgen wurde dem Flüchtling ein Stübchen im oberen Stockwerk eingerichtet, welches sonst von einer alten Frau bewohnt wurde, die ohne alles Aufsehen ein anderes Zimmer beziehen konnte. Das Dienstmädchen, dessen Schwatzhaftigkeit man fürchtete, hatte man vorsichtiger Weise schon früher abgeschafft. In diesem vorläufigen Asyle, welches den Flüchtling fünf Tage hindurch beherbergte, war derselbe aber noch weit entfernt, wirklich in Sicherheit zu sein.

Es waren noch unendliche Schwierigkeiten zu überwinden. Schon am nächsten Tage, den 30. Juni, erfuhr Rüstow in seinem Versteck Folgendes: Bereits eine halbe Stunde nach seiner Flucht war der Auditeur in der leeren Zelle gewesen, um den Thatbestand aufzunehmen. Alle Personen, die als Freunde Rüstow’s bekannt waren, und deren Wohnungen wurden streng überwacht. Vor einer derselben hatte die Polizei einen Heuwagen umgestürzt, weil man den Flüchtling im Heu verborgen wähnte. Eine demselben nahestehende Dame wurde verhaftet, mußte aber, da nicht das Geringste gegen sie vorlag, noch an demselben Tage wieder entlassen werden. Im Laufe ihres durch den Commandanten selbst im Beisein noch eines Generals geleiteten Verhörs kam auch die bisher geheim gehaltene Thatsache zur Sprache, daß Rüstow bereits durch das Kriegsgericht in Glogau zu einer einunddreißigjährigen Festungshaft verurtheilt war. Nach Ansicht des Commandanten hatte nur die verfrühte Wissenschaft hiervon die tollkühne Flucht veranlassen können. In der That aber war, wie erwähnt, dies letzte Urtheil dem Gefangenen bei seiner Flucht noch unbekannt.

Rüstow hatte, als ihm die Nichtbestätigung des ersten Erkenntnisses publicirt worden, die Unterschrift des Protokolls verweigert. Zugleich erklärte er, daß er den Standpunkt acceptire, den man ihm gegenüber durch die Nichtbestätigung eingenommen habe, und hiernach seine Entschließungen treffen werde. Seine Flucht war eine Consequenz dieser Erklärung. Im Ganzen herrschte große Bestürzung in den zunächst betroffenen Kreisen, und der Platzmajor ging in seinem Eifer, den Flüchtling wieder in seine Gewalt zu bekommen, so weit, einen Preis von fünfzig Thalern auf seinen Kopf zu setzen. Die Patrouillen der Hauptwache und sämmtliche Thorposten wurden verdoppelt. Ein bekannter Polizeispion drängte sich an einen Freund Rüstow’s mit dem Vorgeben, er wisse recht gut, daß Rüstow noch in der Stadt sei, und mit dem Erbieten, für fünfzig Thaler sein Versteck auszukundschaften. Der Freund ging jedoch nicht in die nicht eben fein gestellte Falle. Allen aber war unbegreiflich, daß der Gefangene hatte entkommen können, da die Flucht unmittelbar nach ihrer Ausführung oder eigentlich noch während derselben entdeckt worden war. Zwei Tischlergesellen nämlich hatten Rüstow an dem Strick hinabgleiten sehen und dem wachhabenden Officier hiervon unverzüglich Anzeige gemacht. Es ist daher wunderbar, daß der Flüchtling nicht wieder ergriffen wurde, als er zurückkehrte, um seine Stiefeln zu suchen. Die verlorenen Stiefeln fand man auf, und als dieser Umstand bekannt wurde, erinnerten sich einige Nachtwächter, daß sie in jener Nacht einen Mann in weißen Strümpfen hatten gehen sehen. Sie waren sehr niedergeschlagen darüber, daß sie sich den so leicht zu verdienenden, vom Platzmajor ausgesetzten Preis hatten entgehen lassen.

Die Freunde Rüstow’s zogen unter der Hand Erkundigungen nach allen Richtungen ein. Das Resultat derselben war für das weitere glückliche Fortkommen ungünstig genug. Man hatte von Seiten der Behörden die umfassendsten Maßregeln getroffen, um dasselbe zu verhindern. Zahlreiche Patrouillen durchzogen und umkreisten die Stadt und weithin waren alle Chausseehäuser mit Polizeiagenten besetzt. Hierbei wolle sich der Leser erinnern, daß im Jahre 1850 Eisenbahnen, außer der nach Stettin führenden, in der Provinz Posen noch nicht vorhanden waren. Es lag daher der Gedanke nahe, daß der Flüchtende, um möglichst schnell zu entkommen, diesen Weg eingeschlagen habe. Um die Verfolger womöglich auf diese falsche Spur zu führen und ihre Aufmerksamkeit von dem wirklich gewählten Wege abzulenken, schickte Rüstow einen Brief an einen Freund in Stettin, in welchem er einem anderen Freunde in Posen seine Ankunft in Stettin und sein glückliches Entkommen auf ein Schiff meldete. Dieser Brief kam, mit dem Poststempel Stettin versehen, am 2. Juli nach Posen zurück und von seinem Inhalt wurde möglichst oft und möglichst laut gesprochen. Ein merkwürdiger Zufall ist es, daß spät in der Nacht vom 29. zum 30. Juni die Telegraphenverbindung zwischen Posen und Stettin durch einen einschlagenden Blitz unterbrochen wurde. – Indessen mußte ein Entschluß gefaßt werden, denn ein zu langes Verweilen in der Stadt konnte ebenso gefährlich werden, wie das Verlassen derselben. Man entwarf tausend Pläne, um sie wieder zu verwerfen, endlich aber blieb man bei demjenigen stehen, welcher wirklich zur Ausführung kam.

Am 5. Juli herrschte schon früh am Morgen in dem Asyl des Flüchtlings eine rege, aber besonnene Geschäftigkeit. Es handelte sich darum, den Lieutenant Rüstow in eine möglichst zarte Dame umzuwandeln. Nachdem er rasirt, geschminkt und gescheitelt war, wurde er in Weiberkleider gesteckt, wobei er mit der peinlichsten Sorgfalt mit allen Details der weiblichen Toilette ausgestattet wurde. Falsche Locken und ein Sonnenschirm vollendeten das Werk, oder, wie Louis Napoleon sagen würde, „krönten das Gebäude“. In dieser Metamorphose fuhr der Flüchtling am 5. Juli Mittags um 1 Uhr in Begleitung von zwei Damen und einem Herrn unangefochten durch die Posten am Berliner Thor. Eine Viertelstunde vor der Stadt stiegen die Damen aus und kehrten zu Fuß zurück, während Rüstow und sein männlicher Begleiter ein vier Meilen von Posen entferntes Städtchen erreichten.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 298. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_298.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)