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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)


Hier, woselbst der Flüchtende sich umzog, erhielt er frische Pferde und zur Vervollständigung seines Anzugs die gänzlich fehlenden Stiefeln. Mit seiner Garderobe war er überhaupt schwach bestellt, denn er hatte außer dem Anzug, in welchem er entsprungen war, nichts als einen Mackintosh, zwei Hemden, zwei Unterhosen und zwei Paar Strümpfe, da man, um jede Spur von seinem Versteck fernzuhalten, nicht gewagt hatte, ihm einen ihm gehörigen Mantelsack mit Civilkleidern und Wäsche zuzustellen. Er hat denselben auch niemals erhalten. Nach Zurücklegung von abermals vier Meilen wurde die zweite Station gemacht. Hier erhielt Rüstow von befreundeter Hand einen Rock, ein Paar Hosen und eine Reisetasche.

Nach viertelstündiger Rast ging es mit frischen Pferden und einem anderen Wagen weiter nach Züllichau, wo der Flüchtling Morgens ein Uhr anlangte und nach einstündiger Erholung Extrapost bestellte. Einige Verlegenheit erwuchs ihm hier durch die übergroße Zuvorkommenheit des Hausknechtes im Gasthofe zum „grünen Baum“, welcher ihn ohne Weiteres zum Grafen machte. Um jede Erörterung zu vermeiden, mußte er sich duldend in diese neue Würde schicken, die ihm jedoch hätte verderblich werden können, denn er befand sich im Besitze eines auf einen Herrn X. lautenden Passes, welcher keineswegs Graf war. Es fiel aber Niemandem ein, nach dem Passe zu fragen. Die Flucht wurde nun mit Extrapost über Grünberg, Naumburg, Sommerfeld, Forsta, Spremberg, Hoyerswerda, Waldhof und Königsbrück bis nach einem Orte in der Nähe von Dresden fortgesetzt, wo sich der Flüchtling am 7. Juli in einer befreundeten Familie einige Erholung gönnen durfte. Nach einem im Freundeskreise heiter verlebten Tage genoß Rüstow einer erquickenden Nachtruhe, während Furcht und Sorge seine Freunde nicht schlafen ließen. Der 8. Juli verfloß heiter wie der 7. Es gesellten sich mehrere nicht Eingeweihte zu dem Freundeskreise, denen Rüstow als ein Herr von X. aus Polen vorgestellt wurde. Endlich aber mußte man an die Trennung denken, und Abends sechs Uhr ging’s an den Abschied. Rüstow begab sich in Begleitung zweier Freunde nach Dresden, von wo er nach Vervollständigung seiner Garderobe und nach einem Besuche bei einer befreundeten Dame mit einem Stellwagen über Freiberg und Chemnitz nach Altenburg fuhr, woselbst er am 10. Juli Morgens fünf Uhr eintraf und im Gasthofe „zum bairischen Hofe“ abstieg. Nach einem zweistündigen erquickenden Schlafe begab er sich zu einem hier wohnenden, ihm befreundeten Herrn, mit welchem die weitere Reiseroute überlegt wurde und von welchem er eine Paßkarte erhielt, zutreffender als der Paß, auf welchen er bisher gereist war.

Am Mittage desselben Tages befand sich der Flüchtling in dem nach Hof in Bereitschaft stehenden Eisenbahntrain und traf hier zufällig in einem Coupé mit zwei Bekannten aus Posen zusammen, welche bis Nürnberg in seiner Gesellschaft blieben.

Nachdem er sich in Hof durch eine dringend nothwendig gewordene Nachtruhe gestärkt, wurde am nächsten Morgen die Flucht auf den Flügeln des Dampfes über Nürnberg, Augsburg und Kaufbeuren nach Lindau fortgesetzt. Auf der Strecke von Nürnberg nach Augsburg hatte der Fliehende das unter den obwaltenden Umständen gewiß recht angenehme Vergnügen, die Gesellschaft eines bairischen Landjägers zu genießen, der ihn aber in keiner Weise behelligte. Ueberhaupt wurde er während der ganzen Dauer seiner Flucht nur ein einziges Mal, und zwar in Lindau, nach seinem Paß gefragt. Er übergab dem Polizeibeamten die Paßkarte, welche er in Altenburg erhalten hatte, und empfing dieselbe ohne alle Umstände nach Verlauf von einer Viertelstunde gegen Erlegung von sechs Kreuzern zurück. In Lindau speiste Rüstow im Gasthofe „zur Krone“ zu Mittag und erquickte sich durch einen Schoppen „Seewein“, ein Gewächs, welches nicht in allzugutem Rufe steht und an den Ufern des Bodensees erzeugt wird; daher der Name. Demnächst bestieg er um zwei Uhr den Dampfer „Ludwig“, welcher ihn schon um halbvier Uhr wohlbehalten nach Rorschach im Canton St. Gallen brachte. Hier endlich auf dem Boden der Schweiz durfte er sich dem Gefühle vollständiger Sicherheit hingeben und gönnte sich am 12. und 13. Juli im Gasthofe „zum Hirschen“ Ruhe und Erholung, welche durch die Strapazen und die Aufregung der Flucht sehr nöthig geworden waren. Von seinem Stübchen aus, dessen Fenster nach dem Bodensee gingen, warf er die letzten Blicke zurück nach Deutschland. Am 14. Juli endlich reiste er nach Zürich, das ihm seither eine zwar unfreiwillige, aber sichere und liebe Heimath geworden ist.




Ein „Ritt in’s alte romantische Land“.

Gewiß fuhren sie erschrocken zusammen, die Geister unserer siebenbürgischen Romantik, als gegen Ende des vorigen Jahres die erste Locomotive über die Karpathen in’s Land brauste und mit dem weihin tönenden Pfiff verkündete, daß uns „die Alles beleckende Cultur“ des civilisirteren Europa’s um vierundzwanzig Stunden näher gerückt war. Und wer ihre Sprache verstand, der hörte, wie die keckeren von diesen Geistern, die sich am Abend neugierig bis zum Schienenstrang gewagt, geblendet von den Flammenaugen des schnaubenden Dampfrosses, einander zuraunten, daß jenes grelle Pfeifen das Decret signalisire, welches sie einst auch aus dieser alten Heimath wegweisen werde.

Weniger schienen die zerlumpten Zigeuner und langhemdigen Walachen zu ahnen, was die rasend vorüberjagenden Wunderwagen zu bedeuten hätten. Offenen Mundes standen sie in ängstlicher Entfernung, schlugen eiligst das gegen alle bösen Geister schützende Kreuz und fragten sich, als das Entsetzen endlich dem Erstaunen gewichen: ob das auch noch auf natürliche Weise zugehe.

Gewiß und gottlob! Der Weg ist gebahnt und der Wall durchbrochen, der das gesegnete Karpathenland von den Ländern fortgeschrittener Industrie und Civilisation so lange und so nachhaltig abgesperrt. Der Schlagbaum ist niedergerissen, welcher die Söhne anderer Reiche nicht zu uns kommen ließ, und es steht zu erwarten, daß der große Touristenstrom, der sich alljährlich an Siebenbürgen wie an einer Terra incognita vorbeiwälzte, nunmehr größere Wellen durch die Engpässe des Karpathengürtels herein werfe. Die hastige Eile, mit welcher der Dampfwagen, „der wilde Riese“, das weite Reich der Magyaren durchstürmt, sie hat den Dämon überwunden, der den sandesdürren, unabsehbaren Pußten Ungarns entwuchs und die Fremden von einer Bereisung des österreichischen Ostens mit ungezogenem Hohnlachen zurückschreckte. Nicht, als ob er über Nacht verschwunden sei, der düstere Culturmangel dieser öden Flächen, – aber der trostlose Eindruck, welchen er macht, ist durch die Schnelligkeit der Eisenbahn bedeutend beschränkt worden.

Von den idyllischen und abenteuerlichen Scenen, die sich an diesem und jenem einsamen Ziehbrunnen der Pußta abspielen, an welchem der Csikos seine Pferdeheerden tränkt und der fern herkommende Fuhrmann Station macht, von dem fremdartigen Treiben dort in der Csarda, der kleinen Haideschenke, wo der vagabundirende Betyar nach den wilden Tönen der Zigeunergeige seinen Csardas tanzt und das Glas credenzend im Vollgefühl seiner Räubergröße stürmische Magyaren-Melodien pfeift – davon erzählt uns der mitfahrende Eingeborene in gebrochenem Deutsch, und ohne Aufenthalt reisen wir unserem Ziel entgegen, nach dem schöneren Siebenbürgen.

Welch’ ein ganz anderes Bild bietet sich hier dem offenen Auge! Wie ein Gürtel schlingt sich der mächtige Wall der Karpathen um das fruchtreiche Land, und die schroffen Gebirgsriesen, mit dem ewigen Schnee auf dem Haupte und dem blinkenden Gold im Schooß, schauen wie trotzige Grenzwächter über die Waldeshöhen und Rebenhügel in die stromdurchrauschten Gefilde herab. Im Innern des Landes ist es weniger die großartige Wildheit der Scenerie, als die harmonische Anmuth, der lebendige Reiz im unaufhörlichen Wechsel, was Siebenbürgen Jedermann lieb und interessant macht. Und das bunte Gewirr von Nationen, wie viel Anziehendes hat es von jeher für den Fremden gehabt! Am ersten bedeutenderen Bahnhof schon umsurrt die Ohren des Ausländers ein ungewohntes Sprachengemenge, das ihn sofort an die Schlußkatastrophe beim babylonischen Thurmbau erinnert. Fleißige Sachsen, hoffärtige Magyaren, arme Walachen, mauschelnde Hebräer, handelnde Armenier, arbeitsscheue Zigeuner … so unterrichtet der Cicerone den Neuling, indem er ihn an einzelnen Gruppen vorbeiführt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 299. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_299.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)