Seite:Die Gartenlaube (1869) 302.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Männern, Weibern und Kindern bestehend. Die beigegebene Illustration dieser seltsamen Scene überhebt mich einer ins Einzelne gehenden Schilderung des Zuges, die ohnehin den burlesk-romantischen Zauber, welcher über dem wirklichen Bilde schwebte, kaum wiederzugeben im Stande wäre.

Der in kleiner Entfernung nachtrippelnde Junge, ein drolliger Kauz, hatte mich zuerst bemerkt. Ruhig wartete er mich ab und bat um meine brennende Cigarre, um seine Pfeife, das rohe Product seiner eigenen Hand, damit anzünden zu können. Kaum hatte er sie erhalten, als er ihr in absichtlicher Ungeschicklichkeit so gewaltsam zu Leibe ging, daß er mir dieselbe nur zerfetzt und um die Hälfte verkürzt zurückreichte, mit der Erklärung: „Der Junker wird doch nicht in seinen Mund stecken, was ein Zigeuner in den Händen gehabt? Er könnte daher die Cigarre mir schenken.“ – Die Aelteren schien mein unvermuthetes Erscheinen nicht sehr angenehm zu berühren, sie ließen es aber dennoch geschehen, daß mich die jüngeren Leichengänger anbettelten. Meine ihnen zur freien Verfügung gestellte Liqueurflasche veranlaßte sie, ehrerbietig den Hut von dem struppigen Haupte zu ziehen und mich mit naiver Vertraulichkeit zu behandeln. Ist doch der „Rossoli“ (Rosoglio) dem Zigeuner ein so seltenes und hochgeschätztes Getränke, daß er den Kaiser nur darum beneidet, weil dieser in der glücklichen Lage ist, jeden Morgen „Rossoli“ frühstücken zu können.

Langsam zogen die Grableute des Weges. Eine tiefe Stille herrschte ringsum, die nur das Stöhnen der Zigeunermutter, das grausig verzerrte Echo ihres Heulens und der Treiberruf des neben dem müden Gaule einherschreitenden Vaters zuweilen unterbrachen. Der ganze Todtenact dieser halbwilden Menschen in der einsamen Wildniß machte einen Eindruck, der sich jeglicher Beschreibung entzieht. Zu dieser Handlung paßte nur diese und keine andere Scenerie.

An dem von der Heerstraße weit abgelegenen Grabe, welches zwei rüstige Zigeuner und eine Zigeunerin eben fertig gebracht, öffneten die Leidtragenden den Sarg und riefen der armen „Tschoré“ einige Worte zu, mit denen sie von ihr zum letztenmal Abschied nahmen. Am heutigen Morgen erst hatte der Tod das schöne Mädchen unterwegs ereilt und schon lag es am Grabe. Gewiß, das Kind muß, bevor der entstellende Tod über sein Antlitz gefahren, unter den Zigeunern eine seltene Schönheit gewesen sein, so daß man in ihm trotz der buntfarbigen Lumpenhülle und des struppigen Rabenhaares das brünette Töchterlein besserer Leute hätte vermuthen können, wenn nicht der Jammer der Mutter seine Zigeunerschaft hinlänglich bewiesen hätte. Ein goldener Ring mit einem glänzendem Brillanten, den die Todte am Finger trug, würde in einem romantischen Fremden die abenteuerlichsten Vermuthungen geweckt haben, ich aber wußte aus häufiger Erfahrung, daß viele dieser Pariafamilien derartige Schätze mit sich führen, die sie entweder von ihren Vätern ererbt, oder selbst durch eine schnelle Handbewegung sich anzueignen verstanden. Bevor sie den Sarg wieder schlossen, zog die Mutter den funkelnden Ring vom starren Finger der Tochter und hüllte ihn sorgsam in einige Fetzen, um ihn alsdann in den breiten Gürtel ihres Gemahles zu versenken.

Als die gefrorenen Schollen auf das Todtengehäuse polterten, heulten die Weiber und Kinder noch einmal laut auf. Die Männer stampften die in die Grube geworfene Erde fest und legten Rasenstücke oben auf, damit kein Sterblicher ahne: hier liege die Leiche eines schönen Zigeunerkindes. Der Ton, mit welchem der weißlockige Greis schließlich noch einige Worte sprach, ließ auf ein kurzes Gebet schließen, von dem ich wenig mehr als die folgenden Worte verstand: „Wai schukar Tschoré, delo-dela-tschitjes“ – O schöne Tschoré, Gott sei mit dir und endlich – noch endlich „atsch, sástehimáha, tschóro tschäi!“ – bleibe gesund, armes Mädchen! – Zu welchem Gott er gebetet und was er sonst noch gebetet, wer möchte das errathen! Sie, deren Namen in keiner Taufmatrikel zu finden, die über religiöse Fragen nachzudenken noch nie eine Veranlassung gefunden, sie konnten mir nicht sagen, welches ihre eigentliche Vorstellung von der Zukunft der beweinten Tschoré sei; sie wußten nur so viel, daß sie wohl nie wieder zu diesem Grabe zurückkehren würden.

Eine halbe Stunde später – und die Zigeuner waren verschwunden. Sie waren fortgezogen, in ein ander Land, und hatten die Schönste ihrer Bande in dem wilden Hochland gelassen. Todtenstille Einsamkeit herrschte um das Grab, in welchem Tschoré, das hübsche Zigeunerkind, von seiner fünfzehnjährigen Wanderschaft ausruht, und nur zuweilen fuhr der Wind mit lustigem Pfeifen darüber hinweg, als wollte er mit dem letzten Klageruf der jammernden Mutter auch das Andenken an die Todte verwehen.

Hans Wolff.

Reichsgräfin Gisela.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)
20.

Die Damen hatten anfänglich beabsichtigt, auf dem See zu fahren, allein der Fürst schritt, in Oliveira’s Schilderungen versenkt, achtlos am Ufer hin und betrat den Weg nach der Waldwiese – die Damen folgten wie magnetisch angezogen durch die erzählende Stimme. Beim Eintritt in den Wald hatten sie die Hüte abgenommen; sie flochten sich Glockenblumen, rothblühende Feldnelken und den wilden Hopfen mit seinen halbentwickelten, glöckchenartigen Zapfen in das Haar. … Wie taubenhaft unschuldig sahen sie aus in ihren fleckenlos weißen Gewändern, mit den jungen, frühlingsfrischen Gesichtern unter den nickenden Waldblumenglocken – und doch waren diese scheinbar kindlichen, unbefangenen Herzen bereits vortrefflich geschult und einexercirt nach dem feudalen Reglement, und zwischen ihnen und der übrigen, nicht hoffähigen Menschheit lag eine nie zu überbrückende Kluft voll Eis und tödtlicher Kälte.

Auf der Waldwiese angekommen, legte die junge hübsche Frau eines Cavaliers eine kleine Guirlande um den Strohhut ihres Gemahls; der Fürst bemerkte es und reichte lächelnd auch seinen Hut hin – das war das Signal zu einer allgemeinen Bekränzung. Die jüngeren Damen flatterten umher wie die Schmetterlinge und plünderten den Waldboden; es wurde viel gescherzt und gelacht – harmloser und naiver konnten sich auch die Dorfkinder nicht im frischen grünen Wald umhertummeln als diese blumensuchenden Hochgeborenen.

Der Portugiese hatte dem Tumult den Rücken gewendet; er stand mit rückwärts gekreuzten Händen vor der erzenen Büste des Prinzen Heinrich und studirte scheinbar mit großem Interesse die Züge des grünüberlaufenen fürstlichen Kopfes. Was keine der jungen Damen dem düsterernsten Mann gegenüber wagte, die Hofdame unternahm es. Sie trat geräuschlos an Oliveira’s Seite und hielt ihm mit einem schalkhaft bittenden, wenngleich schüchternen Blick die schmale weiße, mit Blumen gefüllte Hand hin. Das wäre wohl ein Moment gewesen, um auf diesen streng geschlossenen Mund ein Lächeln, in die dämonisch dunklen Augen ein freundliches Aufleuchten zu zaubern – vergebens – das Bronzegesicht veränderte sich nicht; wohl aber nahm er mit einer tadellos ritterlichen Verbeugung den Hut vom Haupte und reichte ihn dem jungen Mädchen hin. Sie eilte zu dem Damenkreis zurück, und der Portugiese folgte ihr langsam. Die ganze Gruppe stand inmitten der Waldwiese. Die kleine Lichtung erschien von diesem Punkt aus wie ein Stern, dessen Strahlen als schmale Wege in den Wald hineinliefen – der Blick konnte nach allen Richtungen hin in die gründämmernden Laubgänge dringen.

Oliveira’s Hut ging von Hand zu Hand, jede der Damen schmückte ihn mit einer Blume; zuletzt blieb er in den Händen der Baronin Fleury. Mit einem lächelnden Aufblick nach dem Portugiesen, der unfern von ihr stand, befestigte sie eine prachtvolle azurblaue Campanula und war eben im Begriff, den Hut zurückzugeben, als sie plötzlich wie versteinert stehen blieb und aufhorchte. Augenblicklich verstummte auch das Geplauder und Summen aller Stimmen – man hörte die dumpfdröhnenden Hufschläge eines herangaloppirenden Pferdes. … War es ein scheugewordenes Thier, das durch den Wald raste? … Es blieb

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1869, Seite 302. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_302.jpg&oldid=- (Version vom 22.8.2016)