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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Miß Sarah scheute zurück vor der gewaltigen Erscheinung, die linker Hand so unerwartet aus dem Dickicht hervorbrach – die Reiterin aber erstarrte in jener Art von lähmendem Schrecken, der das Herz erfaßt beim Ertapptwerden auf unrechtem Wege. … War doch eben noch ihre ganze Seele erfüllt gewesen von ihm, der dort hervorstürmte. … Noch in diesem Augenblick hatte sie mit leidenschaftlicher Angst jeden Zug seines Gesichts, jede seiner Bewegungen sich vergegenwärtigt und jenen schönen, braunen Lockenkopf dicht daneben gehalten, um unter qualvollen Leiden nach der Beziehung zwischen Beiden zu forschen. … Das Gefühl der Abneigung gegen die reizende Hofdame war bei dieser Untersuchung zur heftigsten Erbitterung geworden, während sie es muthlos aufgeben mußte, auch ihm zu zürnen, oder gar sein Bild aus ihrer Seele zu verscheuchen. … Stand das nicht Alles auf ihrer Stirn zu lesen? …

Die Empfindung vernichtender Scham kam mit aller Wucht über sie. Die Blutwellen ergossen sich verrätherisch und unaufhaltsam über ihre Wangen – sie war verloren den dunklen, durchdringenden Augen gegenüber, wenn sie nicht floh. …

Nie hatte wohl Miß Sarah die Reitgerte so energisch empfinden müssen, wie in diesem Augenblick – sie stieg in die Höhe, dann flogen Roß und Reiterin wie toll über das Blachfeld.

Oliveira verharrte, wie es schien, unbeweglich auf der Stelle, wo er aus dem Walde hervorgekommen – außer den Hufschlägen ihres Pferdes hörte Gisela keinen Laut; das hielt sie jedoch nicht ab, ihre Flucht in unverminderter Sturmeseile fortzusetzen. … Schon tauchte ihr schwindelnder Blick in die Steinbrüche hinab, die, urplötzlich nahe gerückt, ihre Klüfte und Abgründe vor ihr aufthaten – da stampfte und schnaubte es hinter ihr – der Reiter war ihr auf den Fersen.

Mit jenem Renner, der wie ein Blitz über den Boden hinfuhr, konnten sich freilich die Füße der kleinen, zierlichen Miß Sarah nicht messen – ein Augenblick noch, und der Portugiese erschien an der Seite der jungen Dame, während er mit rascher Hand in die Zügel ihres Pferdes griff.

„Ihre Furcht macht Sie blind, Gräfin!“ zürnte er.

Sie war keines Lautes fähig. Ihre Hände, die sich widerstandslos den Zügel hatten entwinden lassen, sanken langsam in den Schooß. Das Mädchen im weißen Kleide mit dem erschreckten Gesicht, aus welchem alles Blut entwichen, saß dort wie eine Taube, die, vom Entsetzen gelähmt, dem über ihr kreisenden Todfeind nicht mehr zu entfliehen vermag.

Vielleicht drängte sich auch dem Mann, der mittels einer einzigen Bewegung die Herrschaft über Roß und Reiterin erlangt hatte, dieser Vergleich auf – ein schmerzlicher Zug bebte um seine Lippen.

„War ich zu ungestüm?“ fragte er sanfter, zog aber den Zügel noch mehr gegen sich, so daß die Pferde Seite an Seite hielten. Seltsam – Miß Sarah, die leicht ungeberdig unter fremder Hand wurde, mußte ihren Herrn und Meister erkennen; sie stand mit zitternden Beinen, sonst aber wie eine Mauer, und senkte fügsam den Kopf.

Gisela antwortete nicht – sie sah auch nicht auf. Oliveira’s braunes Gesicht war ihr so nahe, daß sie meinte, seinen Athem über ihre Stirn hinwehen zu fühlen.

„Sie haben mir bereits gesagt, daß Sie mich fürchten,“ hob er wieder an. „Ich will diese Empfindung, welche Sie vor mir, als Ihrem Widersacher, instinctmäßig warnt, durchaus nicht bekämpfen – ich darf nicht einmal, ja, so oft ich in Ihr schuldloses Gesicht sehe, möchte ich Ihnen sagen: ,Fliehen Sie mich, so weit Sie können!’ … Wir sind eben zwei jener Gottesgeschöpfe, denen vom Uranfang an auf die Stirn geschrieben ward: ,Ihr sollt Euch bekämpfen mit allen Waffen’ –“

Er hielt inne. Gisela hatte die braunen Augen groß und erschreckt zu ihm aufgeschlagen. Sein Mund, den die Linien schneidender Ironie, aber auch die eines verhaltenen Schmerzes umzuckten, sprach das Wort ewiger Feindseligkeit ungescheut aus – und doch, wie leuchteten seine gefürchteten Augen auf, als sie die ihren in einem Blick berührten!

Sie konnte diesen Blick nicht ertragen. Er zog Alles, was sie gewaltsam in sich Niederkämpfen wollte, unwiderstehlich an’s Tageslicht. Ihr war es sicher nicht auf die Stirn geschrieben worden, gegen ihn zu kämpfen – sie liebte ihn bis in alle Ewigkeit – das wußte sie. Alles, was ihr Herz in der liebeleeren Einsamkeit an reiner Gluth, an zärtlicher Innigkeit in sich aufgespeichert, gab sie ihm hin, und er stieß sie zurück – das aber sollte er nun und nimmer wissen. …

Mit namenloser Angst entriß sie ihm die Zügel. Ihr Oberkörper bog sich mit einer fast krampfhaften Bewegung nach der entgegengesetzten Seite, während ihre Augen scheu den Abgrund suchten.

Bei dieser Geberde erblaßte Oliveira.

„Gräfin, Sie mißverstehen mich –“ sagte er mit bebender Stimme, aber er brach sogleich ab, und jetzt glitt ein schönes, sarkastisches Lächeln Über sein Antlitz hin.

„Sehe ich aus wie ein Wegelagerer?“ fragte er. … „wie Einer, der ein wehrloses Geschöpf – sei es wer immer – dort hinabstoßen könnte?“

Er deutete nach dem Steinbruch.

Daran hatte ihre Seele nicht gedacht. Wie war ein solches Mißverständniß möglich, und wie sollte sie es anfangen, ihre heftige Bewegung anders zu motiviren?

Er ließ ihr keine Zeit.

„Wir müssen weiter,“ sagte er, während sein Auge am Horizont hing – die Rauchwolken verdichteten sich augenblicklich, zwei dunkle Säulen fuhren gen Himmel; das Feuer gewann sichtbar an Ausdehnung.

Oliveira sah wieder auf die junge Dame nieder – seine Züge hatten jenen entschiedenen Ernst angenommen, der ihr so mächtig imponirte.

„Ich bin eine feige Natur, Gräfin,“ sagte er weiter. „Ich kann es nicht sehen, wenn ein Pferd auf schmalem Wege an einem Abgrund hinschreitet. … Hinüber müssen wir – aber ich bitte Sie, zuvor das Pferd zu verlassen.“

„O, Sarah geht sicher! Sie scheut nicht!“ versicherte Gisela mit einem leisen Anflug ihres kindlichen Lächelns. „Ich habe ja vorhin erst die Stelle passirt – sie ist ganz und gar ungefährlich.“

„Ich bitte Sie!“ wiederholte er statt aller Antwort.

Sie glitt, gehorsam wie ein Kind, von Miß Sarah’s Rücken – in demselben Augenblick sprang auch er auf den Boden, und während sie, ohne sich umzusehen, nach dem Fußweg hinschritt, band er die Thiere fest.

Gisela schrak zusammen – er stand an ihrer Seite, als sie den schmalen Weg betrat. Ihr zur Rechten stieg die Felswand in jäher Steilheit empor, und links schritt er dicht an der Tiefe hin.

Schüchtern glitt ihr Blick seitwärts an der mächtigen Gestalt empor – es lagen in Wirklichkeit nur wenige Linien Raum zwischen ihnen, und doch sollte sie für ewig eine geheimnißvolle Kluft trennen, die nur er kannte. … Ihr einst so kalt erwägender Verstand, der die Schranken der sogenannten weltlichen Ordnung streng respectirt und sich in all’ seinen Schlüssen an sie angelehnt hatte, was war er jetzt dem überwältigenden Ausspruch ihres Herzens gegenüber? … Und wenn der Mann neben ihr seine Rechte gehoben und gesagt hätte: ,Gehe weiter mit mir, so wie Du da neben mir herschreitest – lasse Alles zurück, was sie Dein nennen und was Du doch nie geliebt hast, gehe mit mir in unbekannte Ferne und in eine dunkle Zukunft’ – sie wäre gegangen – dem Arm, der das hülflose Weib getragen, vertraute sie blindlings. … Aber jener Hochgeborne drüben auf der Waldwiese, der Diplomat mit dem eiskalten Gesicht und den schlaffen Lidern, der sie „meine Tochter“ nannte, er hatte den letzten Rest ihres Vertrauens verwirkt. … Er wußte auch, daß sie den Steinbruch passiren mußte, und doch hatte er sie förmlich dahin zurückgejagt er war keine „feige Natur“, wenn es sich um Leben und Tod handelte, ihn verließ nur die Fassung und Selbstbeherrschung dem Verbrechen der Etikettenverletzung gegenüber.

Nicht ein Wort fiel zwischen den Dahinwandernden – Oliveira’s Gesicht sah aus wie von Erz – kein Blick fiel auf das Mädchen; er hob auch die Rechte nicht, die bewegungslos niederhängend das weiße Kleid streifte, aber er schritt beharrlich als Schutz und Wehr neben ihr, und sie sah, wie ihm das Blut in die braunen Wangen schoß, wenn ihr Fuß an einem Stein abglitt und ihre Gestalt erschüttern machte.

So kamen sie an die Stelle, wo sich der Weg auf wenige Fuß breit verengte. Gisela fühlte ihre Pulse stocken – um sie

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 307. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_307.jpg&oldid=- (Version vom 19.9.2021)