Seite:Die Gartenlaube (1869) 321.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

No. 21.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Reichsgräfin Gisela.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


22.

Der Waldweg, in welchen die Reitenden einlenkten, war ziemlich breit – die Pferde konnten neben einander laufen; er mündete nach kurzer Strecke in der Fahrstraße, die Neuenfeld mit Greinsfeld verband.

Bei dem Knotenpunkt dieser zwei Wege angekommen, hörten die Reiter ein fernes Tosen und Brausen. Oliveira hielt die Pferde zurück, und kurze Zeit darauf stürmten zwei Feuerspritzen, gefolgt von einem großen Theil des Neuenfelder Arbeitspersonals auf Leiterwagen, vorüber.

Wie flogen die Mützen von den Köpfen dieser Leute bei Erblicken ihres Herrn! Wie strahlten ihre kräftigen Gesichter in freudiger Ueberraschung auf! … Das waren die Menschen, denen Frau von Herbeck nicht mehr dankte, weil sie weniger devot als ehemals grüßten, weil sie nicht mit tiefgebogenem Rücken verharrten, bis die kleine fette Frau aus ihrem Gesichtskreis entschwunden war. … Was hatte diese Frau je gewirkt, das sie berechtigte, den Tribut tiefster Verehrung zu beanspruchen? War sie ein bedeutender Geist, der neue Ideen in die Weltanschauung warf? Förderte sie in irgend einer Weise das allgemeine Menschenwohl? War sie eines jener gottbegnadeten Wesen, denen das Talent in überwältigender Macht verliehen? Das Gegentheil von alledem. Sie verabscheute die bedeutenden Geister mit neuen Ideen als revolutionär, und ihr eigener Gedankengang war ein beschränkter, in der Bahn engherziger Gesetze kreisender – sie rührte keinen Finger für das allgemeine Menschenwohl und begnügte sich, in ihrem stumpfen Gebet Gottes Gnade für die frommen Lämmer, die Gläubigen, und seinen Fluch, sein Strafgericht auf die Häupter der Gottlosen zu erflehen – sie bezeichnete die Ausübung der Künste als „nicht passend“ für hochgeborene Leute – Alles in Allem verlangte sie die sclavische Unterwerfung anderer Menschenkinder gegenüber ihrer Person, einzig um der Thatsache willen, daß die Eltern, von denen sie stammte, das „von“ vor ihren Namen setzen durften.

Bei dem nothwendigen Schluß dieser kritischen Beleuchtung erröthete Gisela vor Unwillen – es geschah zum ersten Mal, daß sie mit prüfendem Auge das eigentliche Wesen ihrer Erzieherin zergliederte. … Mit welcher rapiden Schnelligkeit entwickelte sich die Urtheilsschärfe dieses jungen, unterdrückten und vernachlässigten Menschengeistes unter dem befruchtenden Element der Humanität; aber auch welch’ seltene Kraft wohnte ihm inne, daß er sich von dem Herzen zu isoliren vermochte in einem Augenblick, wo es aus tiefster Seele blutete!

Noch ein dritter Wagen voll Menschen jagte an den neben dem Fahrweg Haltenden vorüber – da sah man viel bleiche, verstörte Gesichter.

„Das sind die Greinsfelder,“ sagte Oliveira.

„Die trifft das Unglück nicht,“ entgegnete Gisela mit bedeckter Stimme. „Die neuen Häuser der Neuenfelder Arbeiter, welche Sie, mein Herr, gebaut haben, liegen auf der entgegengesetzten Seite des Dorfes – die Häuserreihe der Taglöhner brennt, die auf dem Gute arbeiten –“

„O weh, das sind Schindeldächer –“

„Und armselige, verwitterte Lehmwände, und die zerbrochenen Fensterscheiben sind mit Papier verklebt –“

Oliveira sah überrascht auf – das klang schneidend aus dem Mädchenmunde.

„Und drin leben Menschen, die für uns arbeiten müssen – als Dank für diese Anstrengungen mißachten wir sie; wir essen das Brod, das sie bauen, und sehen zu, wie sie selbst hungern; wir machen uns weis, sie seien zum Elend geboren, sie seien ein Etwas, das mit uns nicht verglichen werden könne, sie seien geistig nichtige Geschöpfe, und doch verlangen wir von ihnen dasselbe Verständniß des höchsten Wesens und seiner Gebote, wie wir es haben, und wenn sie sterben, verheißt ihnen der liebe Gott dasselbe Himmelreich wie uns. Wenn dort ihre Seelen uns ebenbürtig sind, warum auf Erden nicht? … Ich weiß, daß wir grausame Egoisten sind, aber ich weiß es erst seit Kurzem –“

Sie brach ab. In fast athemloser Hast hatte sie gesprochen, während Oliveira schweigend neben ihr verharrte. Sie waren bisher im Schritt geritten, weil Miß Sarah bei dem sinnverwirrenden Getöse der vorüberrasselnden Wagen gescheut hatte. Auch jetzt streckte der Portugiese zurückhaltend seinen Arm aus, als Gisela das Pferd antreiben wollte.

„Noch nicht!“ wehrte er. „Wir dürfen dem Lärm nicht wieder so nahe kommen.“

„So reiten Sie voraus, mein Herr! Ihr Pferd scheut nicht“

„Nein – ich darf nicht, um dort vielleicht einige arme Habseligkeiten zu retten, hier ein Menschenleben preisgeben. … Sie behaupten, Ihr Pferd sei sicher, und es bringt Sie doch jeden Augenblick in Gefahr – dabei reiten Sie tollkühn, Gräfin.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 321. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_321.jpg&oldid=- (Version vom 25.1.2021)