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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

nur flüchtig genannt. Wie der unbekannte Säemann schreiten sie durch das Leben und streuen unbekümmert den Samen der Zukunft aus. Gleichgültig empfängt meist die gedankenlose Menge das tägliche Brod, die Nahrung der Seele aus ihren Händen, und nur Wenige wissen oder ahnen auch nur, welch’ eine Fülle von Wissen und Intelligenz, von Muth, Fleiß und Ausdauer in diesen vorüberrauschenden Blättern wohnt, in denen der Geist der Zeit und die Macht des Gedankens sich offenbaren.




Aus der Rumpelkammer des modernen Aberglaubens.

Von Dr. J. Schwabe.
Die Scala des Aberglaubens. – Tischrücken. – Prophetische Träume. – „Zweites Gesicht“. – Die Hellseherin und der Arzt. – Einfluß des Freitags und des Mondwechsels auf das Wetter. – Der Fisch im Wasserglase. – Zusammenhang von Ebbe und Fluth mit den Todesfällen. – Die Mondsucht.

Es ist eine zweifellos feststehende Thatsache, daß die Naturwissenschaften, die Jahrtausende lang ein kümmerliches Dasein fristeten, seit den großen Entdeckungen der neueren Zeit bedeutenden Einfluß auf unsere gesammte geistige Bildung gewonnen haben. Diesem Einfluß mußte es gelingen, das Gebiet des Aberglaubens von Tag zu Tag mehr einzuengen. Allein man darf den bis jetzt erreichten Erfolg doch nicht überschätzen. Trotz der aufklärenden Richtung unserer Zeit sehen wir den Aberglauben noch in üppiger Blüthe wuchern, und wenn die Naturwissenschaften auf anderen Gebieten, z. B. dem der Technik, mit Siebenmeilenstiefeln vorschreiten, so ist das doch leider hinsichtlich ihres aufklärenden Einflusses zur Zeit noch in viel geringerem Grade der Fall. Die Ursache liegt klar am Tage. Dem Menschen ist eine tiefe Hinneigung zum Wunderbaren und somit zum Aberglauben angeboren. Die Phrenologie nimmt bekanntlich ein besonderes Organ für das Wunderbare an. Sollte auch, wie von manchen Seiten behauptet wird, die Phrenologie eine leere Hypothese sein, so hat sie doch gewiß in dem einen Punkte Recht, daß sie jene Eigenthümlichkeit des menschlichen Geistes bezeichnet hat und ihr eine besondere Residenz in unserem Gehirn anweist. Wie an einer gewissen Stelle der Netzhaut des Auges kein Bild gesehen wird, so wird an jener Stelle des Hirns keine Wahrheit erkannt. Das Seltsame, Unerklärliche, Geheimnißvolle wird, je mehr es sich dem Ungeheuerlichen nähert, um so lieber geglaubt. Der andere Grund, weshalb die Naturwissenschaften bisher nicht vermochten, eine gründlichere Aufräumung in der Rumpelkammer des Aberglaubens zu bewirken, liegt darin, daß die Naturwissenschaften noch lange nicht das sind, was sie sein sollten, nämlich Gemeingut der gebildeten Classen. Wir verlangen von einem gebildeten Mann, daß er richtig sprechen und schreiben, daß er in einer oder mehreren Wissenschaften oder Künsten zu Hause sein soll; aber noch hält man es nicht für einen Mangel an Bildung, wenn Jemand von seinem eigenen Körper, der ihn doch außerordentlich nahe angeht, kaum die Oberflache, die Haut, kennt und vom Stoffwechsel, Blutumlauf und Athmungsproceß nicht viel mehr weiß, als ein Tertianer vom Sanskrit; wenn er die einfachsten, jeden Augenblick seinen Sinnen sich darbietenden Vorgänge sich nicht zu erklären weiß, weil das Fallgesetz, die Lehren von der Reibung, vom Schall etc. ihm böhmische Dörfer sind.

Und hier finden wir den speciellen Grund, wie es möglich ist, daß der Glaube an unmögliche Dinge, der Aberglaube, selbst bei übrigens gebildeten Leuten so oft zu treffen ist. Aber natürlich! abergläubisch will Niemand sein. Man beruft sich gewöhnlich darauf, daß man den Aberglauben gar nicht so leicht definiren könne; es werde ja von dem Einen das als Aberglaube angesehen, was dem Andern ganz verständig und begründet erscheine. Die bekannte Definition des Aberglaubens als eines Glaubens, bei dem ein Aber ist, will nicht recht genügen. Versuchen wir einen anderen.

Der Aberglaube besteht entweder im Glauben an solche Vorgänge, welche einem als solches erkannten und von der Wissenschaft anerkannten Naturgesetz widersprechen, oder in der Annahme von übernatürlichen, also den Naturgesetzen widersprechenden Ursachen für gewisse wirklich beobachtete natürliche Vorgänge. Für den Aberglauben der ersten Gattung bietet uns in der neuesten Zeit der berüchtigte Hexenmeister Hume ein Beispiel, der den Versammlungen gebildeter Leute in Paris, vor welchen er seine Kunststücke machte, ein direct gegen das Gesetz der Schwere verstoßendes Schauspiel gab. Er erhob sich nämlich durch magische Kräfte frei bis zur Decke des Zimmers und schwebte eine geraume Weile daran umher. Im Zimmer war es freilich dunkel, und es ist nicht recht klar, auf welche Weise dieses merkwürdige Schweben beobachtet worden ist. Wie schade, daß dies Thomas Mayerne, der freilich schon vor zweihundertundvierzehn Jahren starb, nicht erlebt hat! Dieser ausgezeichnete Arzt hat uns den vortrefflichen Ausspruch über Dämonomagie (Geisterzauberei) hinterlassen: diese sei nur dann anzunehmen, wenn ein ungebildeter Mensch sich über wissenschaftliche Dinge gut auszudrücken und sein Körper sich einige Zeit in freier Luft schwebend zu erhalten vermöchte.

Ein Beispiel aus der zweiten Kategorie obiger Definition des Aberglaubens liefert die vor etlichen Jahren herrschende Epidemie des Tischrückens. Eine durch bekannte mechanische Gesetze einfach zu erklärende Erscheinung wurde mit einem einer besseren Sache würdigen Eifer gewissen bisher unbekannten magischen Kräften zugeschrieben.

Der Aberglaube giebt sich in den verschiedenen Individuen auf die verschiedenste Weise kund. Vom crassen, handgreiflichen Aberglauben bis hinauf zum Erkennen einer mathematischen Wahrheit kann man eine Scala bilden, auf welcher freilich die Grade nicht so scharf gezeichnet erscheinen, wie auf einem Thermometer. Steigen wir auf unserer Scala aus dem umnachteten Gebiete des „crassen“ Aberglaubens, wo bei gänzlicher Unkenntniß der Naturgesetze und bei ebenso völligem Mangel an unbefangener Beobachtung handgreifliche Unmöglichkeiten geglaubt werden, wo allerlei Ungeziefer gehext wird, wo der feurige Drache in die Essen fährt, wo die Wünschelruthe vergrabene Schätze entdeckt, wo gehörnte und ungehörnte Gespenster sich umher treiben, – aufwärts in die von tiefer Dämmerung umfangene Region, wo uns spiritualistisches Gesäusel empfängt, wo Tische tanzen und Geister klopfen, wo es „sich eignet“, prophetische Träume geträumt werden und wo „das zweite Gesicht“ die herrliche Function des ersten Gesichts, unseres wackeren Sehorgans, in den Schatten stellt.

Weiter aufwärts! Noch immer herrscht starke Dämmerung, doch ist sie nicht mehr gar so dick wie auf der vorigen Stufe. Ein furchtbarer Anblick trifft unser Auge: ein Mensch mit gespaltenem Schädel, ein Ermordeter, liegt am Boden; man nimmt eines der starrenden Augen aus dem Kopfe der Leiche, öffnet es, und hinten auf der Netzhaut zeigt sich das wohlgetroffene photographische Abbild des Mörders. Hinweg von dem düstern Schauspiel; doch ehe wir diese Gegend verlassen, treten wir in jenes stattliche Haus, in welchem tiefe Stille herrscht. Ein Livreebedienter empfiehlt uns mit auf die Lippen gelegtem Finger, wie wir uns verhalten sollen, und öffnet uns leise die Thür zu einem Zimmer, in welchem eine magische Beleuchtung dämmert. Auf einem Ruhebett hingegossen, von einem in malerische Falten sorgfältig drapirten Shawl bedeckt, liegt eine bleiche junge Dame mit geschlossenen Augen. Um sie herum stehen in andächtigem Schweigen mehrere Herren und Damen, zunächst am Bett ein junger Mann, der mit theilnehmendem Auge die Schlummernde betrachtet und bisweilen ihren Puls fühlt. Hinter ihm steht ein alter Herr, dessen stechender kalter Blick gleichfalls unverwandt auf der Schlafenden ruht. Jetzt öffnen sich ihre Lippen; mit süß flötender Stimme sagt sie: „ich werde schlafen, fast zwei Stunden lang; vier und einhalb Minuten vor neun Uhr werde ich erwachen.“ Wieder tiefes Schweigen. „Doctor!“ ruft die Schlafende ängstlich, „legen Sie schnell ab, was Sie in der linken Rocktasche haben; das Gold brennt mich, und die Diamanten senden schneidende Strahlen in mein Gehirn.“

Mit dem Ausdruck des tiefsten Staunens zieht der junge Arzt ein rothes Maroquinetui aus der Tasche und reicht es den

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 329. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_329.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)